Der verlorene Bruder

Noah Kraus, Lorenz, Hübner, Matschke, Toma, Geschonneck. Der unsichtbare Sohn

Foto: WDR / Martin Menke
Foto Rainer Tittelbach

Auf dem Hintergrund der Wirtschaftswunderjahre erzählt die Tragikomödie „Der verlorene Bruder“ von einem Flüchtlingsehepaar, das zwar eine neue Heimat gefunden hat, aber mit dem Trauma leben muss, den erstgeborenen Sohn in den Wirren von 1945 verloren zu haben. So wird auch ihr 13-jähriger Sohn genauso zum Leidtragenden ihres tragischen Schicksals: ein Kind, das nicht gesehen wird von den Eltern. Matti Geschonnecks ARD-Fernsehfilm ist nach dem autobiographischen Roman „Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel entstanden; Ruth Toma hat die Vorlage filmgerecht bearbeitet. Als Familiengeschichte und Sittengemälde gleichermaßen überzeugend – episodisch, beiläufig & liebevoll erzählt, großartig besetzt.

Flüchtlingstrauma, Wirtschaftswunder, verlorener Sohn
Max ist 13 Jahre alt und er ist der Junge, der auf keiner Photographie ganz drauf ist. Er ist der, der des Vaters ganzen Stolz, den Opel Olympia, blitzblank zu polieren hat, der die biblischen Wochenlosungen seiner Tante über sich ergehen lassen muss und der es genießt, wenn ihm die Mutter seinen Hautausschlag einbalsamiert. Mehr Aufmerksamkeit und Nähe gibt es nicht für ein pubertierendes Kind 1960 in Deutschland. Und schon gar nicht bei den Blaschkes. Vater Ludwig und Mutter Elisabeth sind 1945 aus Ostpreußen vor den Russen geflüchtet, dabei ist ihnen ihr erstgeborener Sohn Arnold verloren gegangen. Dieses Trauma haben sie trotz ihres ansehnlichen Wohlstands, den sie sich in einer westfälischen Kleinstadt durch ein Lebensmittelgeschäft erarbeitet haben, noch immer nicht überwunden. 15 Jahre nach dem Krieg brechen alte Wunden wieder auf. Doch zunächst gibt es Hoffnung: Ein Findelkind aus jenem Flüchtlingstreck ist in einem Waisenhaus ausfindig gemacht worden. Vor allem für die Mutter steht fest: Das ist mein Sohn! In der Folgezeit muss sich die Familie allerlei Prozeduren unterziehen, die Eltern lassen erbbiologische Gutachten erstellen, doch ihren Arnold scheinen sie nicht wiederzukriegen – auch deshalb, weil Max hier & da nachhilft. Denn der Junge befürchtet, durch die Anwesenheit seines Bruders bald noch mehr im Abseits der elterlichen Wahrnehmung zu stehen. Als toter Bruder ist ihm dieser Arnold lieber.

Der verlorene BruderFoto: WDR / Martin Menke
Ein seltenes Bild. Mutter Elisabeth (Katharina Lorenz) kämpft um ihren verlorenen, erstgeborenen Sohn. Darüber gerät Max (Noah Kraus) noch mehr ins Hintertreffen.

Die Angst, von den Eltern nicht gesehen zu werden
Auf dem Hintergrund der bundesdeutschen Wirtschaftswunderjahre erzählt die Tragikomödie „Der verlorene Bruder“ von einem Flüchtlingsehepaar, das zwar eine neue Heimat gefunden hat, aber die Vergangenheit einfach nicht vergessen kann. Der Vater würde zwar schon gerne (und neue Autos, Plattenspieler und Fernseher sollen ihm dabei helfen), aber seine Frau lässt ihn nicht. Ihr verlorener Sohn wird zur Obsession. Der zwei Jahre später geborene Sohn wusste von alldem lange nichts; die Eltern erzählten wenig aus jener Zeit und es hieß immer nur: der Bruder sei tot. Dieser Max ist nun genauso Leidtragender des tragischen Schicksals seiner Eltern. Der ARD-Fernsehfilm von Matti Geschonneck ist nach dem autobiographischen Roman „Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel entstanden. Drehbuchautorin Ruth Toma („Romeo“) hat die gedankenvolle Vorlage filmgerecht bearbeitet, indem sie aus dem kommentierenden Beobachter Max einen liebenswerten Protagonisten gemacht hat, der die Initiative ergreift, um nicht noch mehr ins Hintertreffen zu geraten. Ist der Film mit seinem leicht melancholischen Blick ansatzweise eine Sittengeschichte der frühen 1960er Jahre, so ist er doch in erster Linie eine Geschichte eines Jungen, der seinen Platz sucht in der Welt der Erwachsenen, die nicht immer leicht zu verstehen ist. Schwer tut sich der Held auch mit dem Anschluss an Gleichaltrige. Von den Jungs wird er verprügelt und das hübsche Mädchen, in das er sich verguckt hat, macht es ihm, dem Flüchtlingskind, auch nicht leicht. Und über allem steht das universale Thema, „die Angst, von den Eltern nicht wahrgenommen zu werden, weil bei ihnen jemand anderes oder etwas anderes im Mittelpunkt steht“, so Toma.

Der verlorene BruderFoto: WDR / Martin Menke
Wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit von Vati Blaschke. Charly Hübner & Noah Kraus

Überschaubarer Mikrokosmos – episodisch, beiläufig, liebevoll
Man merkt als Zuschauer, dass dem Film „Der verlorene Sohn“ eine literarische Erzählung zugrunde liegt – und es ist in Zeiten krimifixierter Geradlinigkeit oder hyperkomplexen Genre-Erzählens geradezu eine Wohltat, sich in diesen narrativen Mikrokosmos zu begeben. Diese westfälische Provinz anno 1960 ist eine überschaubare Welt, in der Raum und Zeit noch wohlgeordnet sind und sich deshalb umso deutlicher die feinen Nuancen im Alltag dieser Familie und im Verlauf der erzählten Lebenszeit erkennen lassen. Es ist, wie Regisseur Geschonneck sagt, „ein den Menschen sehr zugewandter Film“. Susann Bieling hat ihn liebevoll ausgestattet, ohne Gefahr zu laufen, dass das Szenenbild die Protagonisten erdrückt. Und Kameramann Theo Bierkens sowie Cutterin Eva Schnare finden für ihn Bilder und ein Tempo, das dem Provinzleben vor über 50 Jahren und den heutigen Sehgewohnheiten gleichermaßen gerecht wird. Was die Geschichte angeht, so ist es die Beiläufigkeit, mit der die Zeitgeistphänomene, der Einzug der Medien, das Man-ist-wieder-wer oder dieses Man-muss-mit-der-Zeit-gehen (vom Tante-Emma-Ladenbesitzer zum Großhändler) sinnvoll in die Handlung integriert werden, und es sind – wie so oft bei Literaturverfilmungen – der Hang zum Episodischen und die liebevollen Details, die diesen Film zu etwas Besonderem machen. Auch wenn die Geschichte von dem verlorenen Sohn voller Tragik steckt und ein Titel wie „Die verlorenen Söhne“ ebenso stimmig gewesen wäre, so ist der Film doch eine Tragikomödie geworden. Toma hätte sich auch nichts anderes vorstellen können: „Wenn man eine reine Tragödie aus so einer Geschichte machen würde, in der kein Platz für Hoffnung bliebe, dann wüsste ich nicht so recht, warum ich sie erzählen sollte“, so die Autorin.

Der verlorene BruderFoto: WDR / Martin Menke
„Möchten Sie noch ein Streichwurstbrot?“ Der verlorene Arnold wäre Elisabeth (Katharina Lorenz) lieber. Was alles ist Polizist Frank Rudolf (Matthias Matschke) bereit, für sie zu tun?

Das Kind leidet still – und bringt den Humor in die Tragikomödie
Das Herzstück des Films sind seine Schauspieler – und die Erzählperspektive, die den 13-Jährigen in den Mittelpunkt dieses Erwachsenenfilms rückt. Der jugendliche Protagonist ist es (neben Matthias Matschkes verliebtem Dorfpolizisten mit seinen Loriotschen „Streichwurstbroten“), der den Humor in den Film bringt, mal als launige Kommentare gebender Ich-Erzähler, mal als einigermaßen glücklos Handelnder. Filmdebütant Noah Kraus spielt jenen Max – und er passt sich gleichwertig ein in ein großartiges Ensemble. Burgtheater-Schauspielerin Katharina Lorenz, die mit dem Kinofilm „Freistatt“, Geschonnecks „Der große Aufbruch“ und den ersten Episoden der neuen ARD-Krimireihe „Sara Stein“ zu den auffälligsten Schauspielerinnen der TV-Saison 2015/16 gehört, passt mit ihrer ätherischen Zerbrechlichkeit wundervoll zu dieser leicht entrückten, sich in ihre Innenwelt eingrabenden Mutter, die vor lauter Sorge um den verlorenen Sohn auch noch ihr anderes Kind zu verlieren droht. Und Charly Hübner ist Ludwig Blaschke (und wer sonst hätte ihn spielen sollen?!), der Lebensmittelhändler, der sich – wie alle Ehemänner jener Jahre – seine Autorität von seiner Frau nicht gern untergraben lässt und der doch alles für sie tun würde. Die Beziehung der Blaschkes vermittelt sich in kleinen Gesten, in Blicken, in wenigen oder nicht gesagten Worten. Typisch für eine Ehe Anfang der 1960er Jahre: „Da war eine andere Innigkeit, eine eher selbstverständliche Verbundenheit“, so Geschonneck. „Und eine Ernsthaftigkeit, die dem Erleben der Kriegszeit, des Vertriebenseins und der Härte der Nachkriegszeit geschuldet war.“ Auch die traumatischen (Nach-)Kriegserlebnisse werden nur angedeutet. Der Junge will wissen, wie das damals alles war, der Flüchtlingstreck, der Bruder, die Russen. Der Vater spricht von den Tüchern, mit denen sich die jungen Frauen ihre Gesichter verhüllt haben. Der Junge bohrt weiter und fragt seine Mutter: „Und was hat der Russe mit dir gemacht?“

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Fernsehfilm

WDR

Mit Noah Kraus, Katharina Lorenz, Charly Hübner, Matthias Matschke, Johanna Gastdorf, Flora Li Thiemann

Kamera: Theo Bierkens

Szenenbild: Susann Bieling

Kostüm: Katharina Ost

Schnitt: Eva Schnare

Musik: Sebastian Pille

Produktionsfirma: Claussen+Wöbke+Putz

Produktion: Jakob Claussen, Uli Putz

Drehbuch: Ruth Toma – nach der Erzählung „Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel

Regie: Matti Geschonneck

Quote: 5,77 Mio. Zuschauer (18,7% MA)

EA: 09.12.2015 20:15 Uhr | ARD

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