Der Verdingbub

Max Hubacher, Stefan Kurt, Katja Riemann, Markus Imboden. Elendes Leben, nichts als Arbeit

Foto: BR / Alex Reuter
Foto Thomas Gehringer

Markus Imboden und Plinio Bachmann erzählen in „Der Verdingbub“ von Kindern, die in der Schweiz zu Beginn der 1950er Jahre wie Sklaven auf Bauernhöfen schuften mussten. Die Hauptfiguren, ein Waisenjunge und die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, sind den Bösigers ausgeliefert, der harten Arbeit, der bigotten Moral und auch deren Unglück über die eigene Armut. Eine Tragödie und eine aufrüttelnde Gesellschaftsstudie, einfach und klar erzählt, sorgfältig inszeniert. Neben der prominenten Besetzung mit Stefan Kurt und Katja Riemann glänzen vor allem die jungen Darsteller Max Hubacher und Lisa Brand.

Diese Reise in die Alpen und in die Schweizer Vergangenheit hat so gar nichts Idyllisches. Die Bilder der „schönen“ Natur, die grünen Wiesen und die traumhafte Berg-Kulisse, gibt es zwar auch, doch sie beschreiben nur das Lebensumfeld. Von wegen Mensch und Natur in harmonischer Eintracht. Hier kämpfen die Bauern ums Überleben. Einen Sehnsuchts-Ort gibt es nur in der Phantasie von Max und Berteli, den Verding-Kindern auf einem Bauernhof im Emmental. Und der ist weit weg: Argentinien. Dort, glaubt Max, essen alle Menschen jeden Tag Fleisch. Und alles ist aus Silber.

Die Schweiz ist zu Beginn der 1950er Jahre eine enge, rückständige Welt: Max, das Waisenkind, wird aus einem Heim geholt, wo Zucht und Ordnung herrschen, wo Bettnässen ein schweres Vergehen und Ohrfeigen an der Tagesordnung sind. Das kommt einem bekannt vor. Doch Kinder aus nicht ganz einwandfreien Familienverhältnissen sind hier auch eine Art Wirtschaftsgut, Sklaven, die in der Landwirtschaft schuften müssen, auf den Familienhöfen, deren Arbeit an den steilen Hängen hart und deren Ertrag bescheiden ist. Und die Bauern erhalten Geld dafür, dass sie die Kinder aufnehmen. Max wird als ein solcher „Verdingbub“ zur Familie Bösiger gebracht. „Die aus dem Heim können arbeiten, aber manchmal sind sie bockig“, sagt der Pfarrer, der Max bei der Familie abliefert. Oder auch: ausliefert. Gerade erst hat man die Leiche des letzten Bubs bei den Bösigers abgeholt. Harte Arbeit von früh bis spät und dennoch nur ein karges Essen, ausgesetzt der bigotten Moral und strengen Erziehung – so leben Verdingkinder. Beinahe wundert man sich, dass sie in die Schule gehen dürfen.

Der VerdingbubFoto: BR / Alex Reuter
Sklavenarbeit in den 1950er Jahren mitten in Europa. Verdingbub Max (Hubacher). Im Haus der Bösigers hat die Bäuerin (Katja Riemann) das Sagen.

Die Schule ist die Gegenwelt: Helle Klassenräume, eine neue, freundliche Lehrerin, menschliche Wärme und Bildung! Hier öffnet sich für die Kinder die Welt, während der Bauernhof im engen Tal von außen ganz hübsch, innen jedoch wie ein düsteres Gefängnis wirkt, in dem sich die Menschen nur geduckt bewegen. Sorgfältig und schonungslos ist der Blick auf dieses unglückliche Leben. Man fügt sich, die Erwachsenen in das elende Leben, die Kinder aus Zwang. Die Deutsche Katja Riemann und der in Bern geborene Stefan Kurt spielen die Bösigers eindrucksvoll als ein Paar, dem der Kampf gegen die Armut jede Lebensfreude genommen hat. Die immer verkniffene Bösigerin hat das Sagen im Haus und verwaltet das (wenige) Geld, während der Mann auf dem Feld arbeitet und seine Sorgen in Schnaps ersäuft. Es wird wenig gesprochen, gar nicht gelächelt, und der Sex ist Verrichtung.

Für Regisseur Markus Imboden hatte die Arbeit an diesem Film auch eine private Seite, denn sein eigener Vater war Verdingbub. Er schreibt: „Ein paar Mal hat mich mein Vater mitgenommen zu seinen Pflegeeltern. Stolz hat er mich gezeigt, stolz, weil er es geschafft hatte, eine normale Familie zu gründen. Ich kann mich noch gut erinnern an die dunkle Stube, den modrigen Geruch, die alten Menschen, die aussahen, als wären sie vom letzten Jahrhundert. Da gab es keine Zuversicht im Blick, nur Demut und Gottesfurcht – Angst eben. Was ich nicht fand, war das Böse. Mein Vater hatte Glück gehabt. Das Böse wohnte ein paar Gassen weiter, bei den Pflegeeltern des Schulfreundes meines Vaters. Auch er ein Verdingbub.“

Der VerdingbubFoto: BR / Alex Reuter
Schlafraum im Waisenhaus. Aufstellen zum Appell. Mittelalterlicher Erziehungsstil

Im Fernsehen läuft der Film in einer hochdeutschen Synchronfassung. Verschiedene Figuren sprechen mal stärker, mal schwächer mit Akzent, aber dieses Zugeständnis ans Publikum nimmt der Geschichte nichts an Kraft und Glaubwürdigkeit. Plinio Bachmann schrieb in seiner Zeit als Chefdramaturg am Wiener Burgtheater das Drehbuch zu dieser erschütternden Tragödie, die zugleich Gesellschafts-Studie ist: einfach, klar, den Fokus immer auf die Figuren, ihre Lebensumstände und ihr Schicksal gerichtet. Max erwirbt sich durch hartes Arbeiten den Respekt des Bauern – und die Eifersucht des gerade vom Militär heimgekehrten Sohnes, dem der Vater nicht zutraut, den Hof zu übernehmen. Schließlich wird noch das Mädchen Berteli, älteste von drei Töchtern einer alleinerziehenden Mutter, auf den Hof gebracht. Unfassbar die Szenen, in denen die Polizei die Kinder abholt, deren Pech es einfach ist, keinen Vater zu haben. Das genügte als Grund, denn einer Frau wurde nicht zugetraut, ihre Kinder alleine zu versorgen. Berteli soll nun der Bösigerin im Haushalt helfen und bei der Pflege der sterbenden Mutter, die auch auf dem Hof lebt. Max ist anfangs gar nicht begeistert.

Nach und nach steigern sich die Vorzeichen der Tragödie: Ein toter Hase, die Verletzung beim Holzhacken, das blutige Schlachten eines Schweines, der Streit beim Schwingfest. Doch einen Fluchtweg gibt es aus dieser Welt: die Musik. Max hat Talent und einen Schatz, seine Handorgel. Im Radio bei der Lehrerin hört er eine ganz ähnliche Musik, aus Argentinien. Beide Kinder, von Max Hubacher und Lisa Brand zum Steine-Erweichen gespielt, träumen sich fort, aber ein ungeteiltes Happy End sollte man lieber nicht erwarten… Die Regie, die Kamera, das Szenenbild haben diese Atmosphäre wunderbar eingefangen. Ein aufrüttelnder, stiller Film ohne Schwarzweiß-Malerei und anklagendes Pathos. (Text-Stand: 18.8.2014)

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Kinofilm

ARD Degeto, Arte, BR, SRF, SWR

Mit Max Hubacher, Lisa Brand, Stefan Kurt, Katja Riemann, Max Simonischek, Miriam Stein, Andreas Matti

Kamera: Peter von Haller

Szenenbild: Marion Schramm, Andi Schrämli

Schnitt: Ursula Höf

Produktionsfirma: C-Films, Bremedia

Drehbuch: Plinio Bachmann

Regie: Markus Imboden

EA: 05.09.2014 20:15 Uhr | Arte

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