Entführt”. Langer Atem
Als Ellen Norgaard in „Winterlicht“ (2019) neue Kommissarin auf Usedom wurde, legte das damalige Drehbuchtrio einen Keim, der erst jetzt, acht Episoden später, aufgeht; ein Beleg nicht nur für den langen Atem des „Usedom-Krimis“, sondern auch für die Komplexität dieser ARD-Donnerstagsreihe. In den ersten Filmen ging es neben den Krimifällen vor allem um die Konflikte zwischen Kommissarin Julia Thiel (Lisa Maria Potthoff) und ihrer Mutter Karin Lossow (Katrin Sass), einer früheren Staatsanwältin, die vor vielen Jahren im Affekt ihren untreuen Mann erschossen hatte. Nach Julias Tod folgte Ellen (Rikke Lylloff) ihr nach – erst im Polizeirevier, dann auch im Leben von Karin, bei der sie zur Untermiete wohnt.
Die beiden Frauen verbindet allerdings noch mehr: Ellen ist auf Usedom zur Welt gekommen. Vor dreißig Jahren ist ihre Mutter verschwunden; die Spur hat sich damals auf der deutsch-polnischen Insel verloren. Im 14. Film der Reihe schließt sich dieser Kreis, und nun lüftet das Drehbuch (Dinah Marte Golch) gleich mehrere Geheimnisse. Die Handlung beginnt allerdings mit einem Schock: Am ersten Arbeitstag nach der Elternzeit überlässt Ellen ihren kleinen Sohn der Obhut einer Tagesmutter. Kurz drauf wird das Baby entführt. Gegenüber ihrem Lebensgefährten gibt die Kidnapperin den Jungen als Enkel aus, und das stimmt sogar: Patrizia Hardt (Marion Kracht) ist nicht nur Ellens Mutter, sondern war einst auch Karins beste Freundin. Sie hat lange in Argentinien gelebt und ist psychisch krank …
Foto: NDR / Oliver Feist
Felix Herzogenrath („Nord bei Nordwest“) hat auch zwei Filme der letztjährigen „Usedom“-Trilogie inszeniert, wobei gerade „Vom Geben und Nehmen“ (Episode 13) mehr Drama als Krimi war. Für „Entführt“ gilt das noch stärker. Natürlich steht die Suche nach dem Baby im Mittelpunkt, aber im Grunde dreht sich die Geschichte um den Konflikt zwischen den beiden früheren Freundinnen, wobei sich die Besetzung mit Marion Kracht als cleverer Schachzug erweist; die Schauspielerin pflegt abgesehen von einigen Krimifolgen vor allem in eher leichten Filmen mitzuwirken. Das macht ihre Rolle besonders reizvoll, denn auf den ersten Blick wirkt die manipulative Patrizia wie eine perfekte Großmutter. Tatsächlich ist ihr Umgang mit dem Baby sehr liebevoll; aber ihre Krankheit macht sie unberechenbar.
Dinah Marte Golch hat mehrere gute Drehbücher für den „Tatort“ aus München geschrieben hat und ist für die Episode „Nie wieder frei sein“ (2010) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Ihr „Usedom“-Debüt konzentriert sich nicht auf Ellens Kummer, sondern auf die Borderline-Mutter, deren Stimmungsschwankungen und die daraus resultierende Sprunghaftigkeit für Überraschungen sorgen; für die Autorin ist das zudem praktisch, weil Patrizias Verhalten nicht immer logisch sein muss. Vor allem psychologisch ist der Film daher interessant, zumal sich Golch inklusive eines tränenreichen Auftritts im argentinischen TV eine interessante Biografie für die Frau ausgedacht hat. Dank der Angst um ihr Kind rückt diesmal Ellen wieder stärker ins Zentrum; zuletzt war die Kommissarin bloß noch Nebenfigur. Ihr Stellvertreter, Karins Neffe Rainer Witt (Till Firit), bleibt der Reihe vorerst erhalten.
Foto: NDR / Oliver Feist
Klassische Krimispannung kommt in „Entführt“ trotz der großen Empathie für alle Figuren – Patrizia ist ganz bewusst nicht als klassische Schurkin entworfen worden – eher weniger, allenfalls zum Finale auf. Am wirkungsvollsten sind die kummervollen Szenen: Patrizia singt dem Baby „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ vor, Ellen stimmt im verwaisten Kinderzimmer zur Musik einer Spieluhr ein; anschließend greift auch die wie stets ausgezeichnete Musik (Colin Towns) das Thema auf. Die Bildgestaltung (diesmal Lars R. Liebold), ohnehin ein Markenzeichen der Reihe, ist ebenfalls vorzüglich. Gerade die atmosphärischen Aufnahmen zu Beginn geben eine Stimmung vor, die den gesamten Film prägt, weshalb auch das abgenutzte Klischeebild der leeren Schaukel zu verschmerzen ist.
„Ungebetene Gäste“. Verlorene Seelen
Der zweite Film knüpft nur lose an die 14. Episode an. Einziger Bezugspunkt ist der Anfang vom Ende der Beziehung zwischen Karin und ihrem Freund Gadocha (Merab Ninidze). Der Polizist hat nur einen Kurzauftritt, als er Karin in der Klinik besuchen will, seine mitgebrachten Blumen dann aber doch lieber einem Clown überlässt und sich verdrückt. Karins Krankenhausaufenthalt ist die Folge eines fesselnd und effektvoll inszenierten Prologs: In ihrem alten Reetdachhaus ist in der Nacht ein Feuer ausgebrochen; Ellen kann ihre Freundin gerade noch retten. Der Auftakt ist ein cleverer Einfall von Michael Vershinin, der gemeinsam mit Scarlett Kleint und Alfred Roesler-Kleint die ersten sieben Drehbücher (2014 bis 2019) der Reihe geschrieben hat, denn der Brand sorgt für völlig neue Bedingungen: Karin steht vor dem Nichts, sämtliches Hab und Gut ist verbrannt. Im Krankenhaus freundet sich Karin mit Saskia Bernard (Lilli Fichtner) an. Die junge Frau ist Opfer eines Verkehrsunfalls geworden, kann sich aber an nichts mehr erinnern. Der Fahrer ist offenbar ein Bankräuber (Nico Rogner), der sich als Versteck ausgerechnet das Anwesen von Saskias Schwiegereltern Dana (Stephanie Japp) und Bo Bernard (Falilou Seck) ausgeguckt hat.
Foto: NDR / Fischerkoesen
Im Rahmen des „Usedom-Krimis“ steht das Unglück für einen Neubeginn; immerhin war Karins Eigenheim gewissermaßen Titelfigur des Reihenauftakts („Mörderhus“), weil sie hier ihren Mann erschossen hat. „Ungebetene Gäste“ ist ohnehin ein ganz anderer Film als „Entführt“, selbst wenn Alexander Fischerkoesen die Handlung in kühle Winterbilder taucht und die Musik von Towns des Öfteren an klassische Psychothriller erinnert: weil Vershinin und Regisseur Andreas Herzog in dessen vierter Arbeit für die Reihe (hat auch „Mörderhus“ inszeniert) die Geschichte um einige heitere Elemente ergänzen. Das Drehbuch sorgt zudem dafür, dass die weiteren Mitwirkenden wieder größere Spielanteile bekommen. Der Erzähl-Strang mit dem Bankräuber entpuppt sich als ausgesprochen raffiniert eingefädelte Erzählung, die mit einer echten Überraschung endet. Eher in Richtung Familienfilm passt dagegen das neue Ensemblemitglied. Herzog möchte den großen Hund, der Lossow zuläuft, als Allegorie verstanden wissen: Der Streuner steht für die verlorenen Seelen des Films. Das gilt natürlich vor allem für die Hauptfigur, die nun nach dem Brand ganz von vorn anfangen muss; wie zu Beginn der Reihe, als die verurteilte Mörderin aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Soundtrack: (2) Queen („Don’t Stop Me Now“), (3) Jefferson Airplane („Somdebody To Love”), The Mamas & The Papas („California Dreamin’”), Marvin Gaye („How Sweet It Is”)
„Der lange Abschied“. Duett zu dritt
Wenn ältere Herrschaften im Film so tun müssen, als seien sie total gut drauf, weil sie Alt-Hippies sind und gerade gekifft haben, wirkt das oft peinlich. Die Mitwirkenden sind ohnehin fast immer zu jung, um tatsächlich authentisch zu sein; die echten Blumenkinder sind ja mittlerweile schon recht betagt. Der Abschluss der Trilogie beginnt daher mit einer Lektion in Fremdschämen, als drei alte Leutchen völlig losgelöst durch den Wald tanzen. Tags drauf gerät Eva (Imogen Kogge), eine der beiden Frauen des Trios, in eine Polizeikontrolle, und wenig später fliegt ihr alter Kleinbus in die Luft. Auf der polnischen Seite wird derweil ein alter Mann aufgegriffen, der sein Gedächtnis verloren hat, aber überzeugt ist, er habe jemanden erschossen; tatsächlich ist Renate, die zweite Hippie-Frau, spurlos verschwunden.
Foto: NDR / Fischerkoesen
Das Drehbuch ist erneut von Dinah Marthe Golch, die schon den Auftakt der Trilogie geschrieben hat und nun den Konflikt zwischen Ellen und ihrer Mutter wieder aufgreift. Im Zentrum steht jedoch die Suche nach der verschwundenen Renate. Das Hippie-Trio bildet eine Lebens- und Liebesgemeinschaft. Vermutlich haben alle drei ein Problem mit Autoritäten, aber ausleben darf diese Lebenshaltung vor allem Eva, die sich gegenüber der Staatsgewalt entsprechend rebellisch aufführen muss. Selbst Imogen Kogge kann nicht verhindern, dass die Rolle nicht nur deshalb ziemlich klischeehaft wirkt. Karin Lossow kommt ins Spiel, weil sie sich mit Gadocha aussprechen will. Der Polizist versucht, aus dem verwirrten Alten (Christian Steyer) Information zu seiner vermeintlichen Tat herauszubekommen. Mediatorin Karin nimmt sich des Mannes an und stößt so schließlich auf die Dreierkommune.
Abgesehen von der Diskrepanz zwischen dem auch von Regisseur Ralf Huettner im Interview ausdrücklich betonten Status des Trios als „68er“ und der Realität des Films – die beiden Frauen, heißt es, seien Anfang beziehungsweise Mitte sechzig – imponiert die Reihe auch im 16. Film nicht zuletzt durch die optische Kontinuität. Fischerkoesen war zwar erneut für die Bildgestaltung verantwortlich, aber Huettner gibt mit „Der lange Abschied“ sein „Usedom“-Debüt. Obwohl Regisseure und Kameraleute regelmäßig wechseln, wirken die Filme dennoch wie aus einem Guss. Auch Huettner bleibt dem bedächtig-stimmungsvollen Inszenierungsstil seiner Vorgänger treu. Auf Usedom beginnt zwar mittlerweile langsam der Frühling, aber Fischerkoesens Bilder sind dennoch frostig; bei den Innaufnahmen sorgt ein leichter Grünstich dafür, dass die Szenen auf dem Polizeirevier, im Gefängnis und im Krankenhaus keinerlei Behaglichkeit aufkommen lassen. (Text-Stand: 12.10.2021)
Foto: NDR / Fischerkoesen