Bewertung im Detail: „Winterlicht“ kriegt fette 4 Sterne, bei „Geisterschiff“ sind sie zarter ausgemalt, und „Mutterliebe“ hat sich 4,5 Sterne verdient.
Die suspendierte Kommissarin begibt sich in Gefahr und ihre Liebsten wollen helfen
Nach ihrer Suspendierung spiele Julia (Lisa Maria Potthoff) mit dem Gedanken, aus Usedom wegzugehen, woanders noch mal völlig neu anzufangen. Das jedenfalls vermutet ihr Ehemann (Peter Schneider). Der scheint allerdings nicht allzu viel zu wissen von seiner Frau. Während er sie im Wellnessurlaub wähnt, hat sie einen nicht ungefährlichen privaten Ermittlungs-Auftrag angenommen. Die Ex-Kommissarin soll in Polen nach einem verschollenen jungen Usedomer aus dem Rockermilieu suchen. Dass er Neo-Nazi ist, könnte dort nicht gut angekommen sein. Julia ist seit Tagen nicht erreichbar. Ihr Mann macht sich Sorgen. Und das völlig zu Recht: Die junge Frau ist verletzt und wird in einem abgelegenen Haus nahe der polnischen Ostseeküste von einer Horde schwerer Jungs gefangen gehalten. Weil Staatsanwalt Dr. Brunner (Max Hopp) vorerst nichts unternehmen will, sieht sich Julias Mutter, die ehemalige Staatsanwältin Karin Lossow (Katrin Sass), in der Pflicht. Gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn macht sie sich nach Stettin auf, wo Julia zuletzt gesehen wurde. Sie stoßen bei ihren Recherchen auf ein Video, in dem der gesuchte Deutsche eine junge Polin vergewaltigt. Als wenig später einem Fischer vor Usedom etwas ausgesprochen Ekelerregendes ins Netz geht, kann nun auch die dortige Polizei nicht länger untätig bleiben. Julia schwebt in Lebensgefahr. Also muss ihre Nachfolgerin Ellen Norgaard (Rikke Lyllhoff) handeln.
Foto: NDR / Oliver Feist
Spannend, nervenaufreibend, physisch & fast wortlos: der Abgang von Julia Thiel
Dass Schauspieler aus Reihen oder Serien aussteigen und deshalb rausgeschrieben werden müssen, gehört zum Fernsehalltag. Dass sich beim „Usedom-Krimi“ das Autorentrio Scarlett Kleint, Alfred Roesler-Kleint & Michael Vershinin ausgesprochen viel Mühe gegeben hat, hängt mit der besonderen Figurenkonstellation dieser ARD-Reihe zusammen: Die horizontal erzählte Familiengeschichte, das Verhältnis von Mutter, Tochter und Enkeltochter, die Spannungen und blinden Flecken der Vergangenheit spielten in den ersten Episoden eine zentrale Rolle. Wenn bei einem solchen Projekt eine der Hauptfiguren nicht mehr will, kann es am Ende nur heißen Exil oder Exitus. Für Emma Bading wurde eine elegante Lösung gefunden: Ihre Sophie Thiel ist fürs Studium nach Berlin gezogen; per Skype und ein letztes Mal in einer emotional nachhaltigen Szene bekommt man sie nun in der sechsten Episode „Winterlicht“ noch einmal zu sehen. Der Abschied von Lisa Maria Potthoff wird spannender und nervenaufreibender. In einer fast wortlosen Performance darf sie mit etwas Action und Fieberphantasien noch einmal ihre außerordentliche Physis und Sinnlichkeit einsetzen. Kameramann Philipp Sichler geht dabei porentief nah ran an die Schauspielerin: immer wieder ihre Augen in Großaufnahme. Das Fenster zur Seele verheißt nichts Gutes für die Heldin.
Regisseur Uwe Janson über die visuelle Urkraft der Usedomer Landschaft:
„Diese von Vermoorung, Versandung und Moränen geprägte Landschaft mit den zahlreichen Findlingen ist ja wirklich nie durch Menschenhand im Wesen zerstört worden. Die Ursprünglichkeit der Landschaft und dieser unendlich weite, sich permanent öffnende, Himmel inspiriert, ja zwingt einen gerade dazu, immer wieder, zunehmend betört, noch genauer hinzuschauen.“
Foto: NDR / Maor Waisburd
Realistische Gewöhnungsprozesse: Unbekannte Schauspielerin, spröde Kommissarin
Ersatz ist bereits gefunden in dieser ersten von drei Episoden, die an aufeinanderfolgenden Donnerstagen gesendet werden. Eine Dänin mit Usedomer Wurzeln wird Thiels Nachfolge-rin: Ellen Norgaard hat auch private Gründe für die Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit. Sie will etwas über ihre Mutter herausfinden, die früh die Familie verlassen hat. Und weil Karin Lossow, die Staatsdienerin, die ihren Ehemann getötet hat, diese verlorene Mutter besser gekannt haben muss, als sie zunächst zugibt, dürfte Ellen vielleicht bald mehr erfahren über ihre Wurzeln; denn sie ist eingezogen ins Lossowsche „Mörderhus“. Psychologisch kann das interessant werden: Ellen ist etwa gleichaltrig wie Julia; Projektionsspielchen in alle Richtungen sind also denkbar. Bisher allerdings übertreiben es die Autoren nicht mit Ellens Sinnsuche. Die Fälle stehen im Mittelpunkt. Doch hie und da gibt es erste Fragen, und in „Mutterliebe“ geraten die beiden Frauen das erste Mal heftig aneinander. Lossow erzählt bekanntlich ungern etwas aus ihrem Leben. „Wenn du mich verhören willst, dann musst du mich schon vorladen“, reagiert sie schroff auf Ellens Fragen. Die Vergangenheit ist wie ein Schatten, der auf den Charakteren lastet. Hinter ihr wird sich anders als in den ersten drei Episoden (2014-16) sicherlich keine existentielle Tragödie verbergen, sondern sie ist vor allem dazu da, die Figuren und Interaktionen emotional aufzuladen. Obwohl die narrativen Verbindungen zwischen den Episoden nicht mehr so groß sind wie in den Anfangsgeschichten, ist der Ausstrahlungsmodus im Wochenrhythmus die richtige Entscheidung. Der fließende Übergang von Thiel zu Norgaard sorgt dafür, dass die Dänin (und das ist eine Stärke von „Winterlicht“) erst langsam ankommt. Außerdem ist sie keine Kuschelkommissarin, es gibt die Sprachbarriere, und ein Dauerlächeln ist ihr nicht angeboren. Bis sie mit den Usedomer Verhältnissen, und der Zuschauer mit ihr warm wird, das dauert eine Weile. Das entspricht einer Krimi-Reihe, die aus menschlichen Dramen ihre Fälle bezieht und so ihre Verbrechensplots wie alltägliche Tragödien erscheinen lässt. Schön auch, dass man auf eine hierzulande unbekannte Schauspielerin setzt: Rikke Lylloff (40), die in ihrer Heimat bisher mehr Theater („Dogville“) spielte, als in größeren Filmrollen aufzufallen, muss man erst kennenlernen, muss ihr Gesicht, ihre Ausdrucksnuancen entdecken. Das wiederum passt zu einer Figur, die ein Geheimnis hat und die man sich nach und nach erschließen muss.
Foto: NDR / Oliver Feist
Atmosphärische Bilder, wendungsreich, komplex, emotional erzählt: „Mutterliebe“
Die typische Genre-Tonalität des „Usedom-Krimis“ setzt sich in den drei neuen Episoden fort. Die beiden Filme von Uwe Janson, der bereits beschriebene Thiel-Abgang und der dritte, „Mutterliebe“, sind optisch und atmosphärisch besonders gelungen. Während „Winterlicht“, dessen Geschichte für den Fortbestand der Reihe zahlreiche Bedingungen erfüllen muss, mit der amateurhaften Ermittlungsweise von Karin Lossow und Stefan Thiel dramaturgisch etwas holpert, gewinnt der Film enorm durch Sichlers Bildgestaltung. Wie die Küstenlandschaft von ihm eingefangen wird, wie sie sich gelegentlich ins Bild schiebt, das ergibt eine ganz eigene Welt, zusammengesetzt aus bizarren Bodenformationen, die sich in abstrakt wirkenden Mustern verlieren, Inseln aus Licht und Schatten. Aber auch das polnische Stettin, ob Absteige oder Puff, sorgen für ein authentisches Ambiente – und so stört es nicht, dass in dieser Episode Informationen vor allem über den Dialog vermittelt werden. Der Film hat auch ein paar markante Nebenfiguren zu bieten, beispielsweise einen schwerkranken Rocker-Boss (klasse: Hans Brückner), der sich als liebender Großvater, aber auch als ebenso gnadenlos und brutal erweist, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. „Mutterliebe“, von Kameramann Dominik Berg, passend zur Geschichte, nicht ganz so virtuos, aber immer noch sehr atmosphärisch bebildert, besitzt die komplexeste und wendungsreichste Narration der drei Filme. Polizist Holm Brendel (Rainer Sellien), sonst häufig in der Rolle als Lossow-Informant wider Willen, rückt in dieser Episode ins Zentrum. Er versucht alles, um die Unschuld seiner Jugendfreundin, die seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt, zu beweisen. Martina Gentsch (Teresa Scholze) hat ihren Geliebten erschossen: Sie sagt, es war Notwehr, die Anklage aber lautet auf Mord. Brendel engagiert sogar einen windigen Privatdetektiv; als der Indizien gefunden hat, die die Angeklagte entlasten, verunglückt er – ohne erkennbare Fremdeinwirkung. Der Polizist ist dennoch sicher, dass der korrupte polnische Kommissar Lucjan Gadocha seine schmutzigen Hände im Spiel habe. Der Erschossene war sein Schwiegersohn. Merab Ninidze spielt diese starke, ambivalente Figur sehr charismatisch. Seine Szenen mit Katrin Sass gehören zu den eindringlichsten Momenten des Films. Denn ausgerechnet dieser oftmals so unbeherrschte polnische Beamte hegt romantische Gefühle für die ehemalige Staatsanwältin.
Katrin Sass‘ Lossow ist der ruhende Pol, das Zentrum dieser Krimi-Drama-Reihe
Sass‘ Figur ist nach dem Ausscheiden von Potthoff die Identifikationsfigur Nummer 1 in „Der Usedom-Krimi“. In „Mutterliebe“ beispielsweise ist sie es zunächst, die mit dem Fall konfrontiert wird, weil Polizist Brendel sie bittet, Martina Gentsch zu besuchen. Für die Frau, die acht Jahre im Gefängnis saß, ist es ein schwerer Gang. Das wird von Uwe Janson nicht überinszeniert, aber die Bildsprache und die Ton-Ebene machen deutlich, was diese Visite für die Heldin bedeutet. Die Kommissarin betritt in dieser Episode erst nach 20 Minuten die Bildfläche. Es ist aber nicht nur die Geschichte der Mörderin Lossow, die nun als eine Art Mediatorin offenbar einen Teil ihrer Schuld abzutragen versucht, die in den drei Episoden dominiert; es ist auch das minimalistische Spiel von Katrin Sass, konzentriert und ihren jederzeit Distanz wahrenden Charakter im Blick. Sie ist der ruhende Pol, das Zentrum dieser ARD-Krimi-Reihe, die vor allem durch sie zum mehrschichtigen Drama wird.
Foto: NDR / Oliver Feist
Die Täter sind selten Berufsverbrecher, sondern meist Menschen, die verzweifelt sind
„Geisterschiff“, der zweite Film der diesjährigen Staffel, erzählt zwar ebenfalls eine Familientragödie mit vielen menschlichen Verlusten, aber der (auch) Comedy-erfahrene Oliver Schmitz verzichtet nicht auf die eine oder andere komödiantische Note. Vieles mag das Drehbuch schon vorgegeben haben, die Art und Weise aber wie er tragende Nebenfiguren wie den von sich selbst sehr überzeugten Staatsanwalt Dr. Brunner oder Polizist Brendel von Max Hopp und Rainer Sellien spielen lässt, das geht deutlich in Richtung Komödie. Mag man das auch nicht ganz passend finden, die Tötungssituation zu Beginn des Films, die nicht einer absurden Komik entbehrt (und die man wohl eher in einer Reihe wie „Nord bei Nordwest“ erwartet hätte), möchte man als Zuschauer keineswegs missen. Schauspielerisch überzeugend sind in dieser Episode besonders Anna Herrmann und Jörg Pose. Dass der Mittäter am Ende mehr oder weniger aus dem Ärmel geschüttelt wird, bei klassischen Krimis eher ein Manko, stört hier ganz und gar nicht. Es betont vielmehr das Markenzeichen dieser Reihe: Die Fälle ergeben sich aus dem Alltag. Die Täter sind nicht immer Berufsverbrecher, sondern oft Menschen, die verzweifelt sind, einfache Leute, die keinen Ausweg in ihrem Leben sehen.