Vom Niedergang der DDR, von intellektuellem Stillstand, von einer Familie, die nach Nischen im realen Sozialismus sucht, aber immer wieder auf einen schmerzlichen Opportunismus’ zurückgeworfen wird – davon erzählt „Der Turm“. Der Zweiteiler nach dem gleichnamigen Roman von Uwe Tellkamp zeigt, wie humanistische und humanitäre Ideale an den Mauern der ideologischen Diktatur zerschellen. Längst ist dieses „System“ für Intellektuelle ein schlechter Witz geworden, aus Ironie wird bald Zynismus – bis irgendwann auch die Mauern des kaputten Staates marode sind. „Der Turm“ erzählt aus der Innensicht einer Familie, der kleinsten Zelle der Gesellschaft, dem Bindeglied zwischen Staat und Individuum. Das Ergebnis ist kein Grenze-auf-Event-Movie mit finalem Wohlfühlschauer, kein Verzweiflungskampf zwischen dem Einzelnen und der Staatsmacht. Der Film folgt den Hoffmanns durch die letzten sieben Jahre der DDR. Alle sitzen im selben Boot, es schaukelt, öfters droht einer, über Bord zu gehen oder in ein Rettungsboot umzusteigen. „Der Turm“ ist eine beispielhafte Literaturverfilmung. Trotz der fast 1000 Seiten der Vorlage wird der Zuschauer nicht erdrückt von den Geschichten. Es ist ein Film, der ganz aus seinen Charakteren lebt. Ein Stück gelebte Geschichte. Ein ganz großer Wurf der ARD.
Foto: MDR / Nik Konietzny
Der Familienvater gibt zunächst den Ton an. Richard Hoffmann (Jan Josef Liefers), der Dresdner Chirurg, der auf den Chefposten seiner Klinik hofft, eine Autoritätsperson, scheint prädestiniert zu sein als eine Figur, die sich am Ist-Zustand der Gesellschaft abarbeitet: der Bildungsbürger und der real existierende Sozialismus. Er ist der Macher. Der, der sich schon mal den Mund verbrennt, der den langen Arm der Stasi zu spüren bekommt, der seit Jahren ein Doppelleben führt mit Geliebter und Kind, von dem seine Familie nichts weiß. Seine bessere Hälfte, Anne (Claudia Michelsen), Krankenschwester, die ihn einst verarztete und die danach seine Frau wurde, handelt vorsichtig, besitzt anfangs nicht das Selbstbewusstsein ihres Mannes. Still halten zum Wohle der Familie. Doch plötzlich ist die Familie Illusion. Ihr Mann wird depressiv und sie (politisch) aktiv. Sohn Christian (Sebastian Urzendowsky), ein Außenseiter, ein Bücherwurm, der Cello spielt und der unter dem Erwartungsdruck des Vaters leidet, ist in einer doppelten Zwickmühle. Verzweifelt über das starre System, die hohlen Rituale, die sozialistischen Denkverbote, gerät er unaufhörlich in Konflikt mit den Autoritäten. Ausgerechnet im Straflager kommt ihm die Erleuchtung…
Foto: MDR / Nik Konietzny
Die DDR auf der Couch. Zwänge regeln die Kommunikation – aber nicht nur im Arbeiter- und Bauernstaat. Den politischen und institutionellen Zwängen steht zum einen der Druck gegenüber, den sich die Charaktere – allen voran Sohn Christian, der jede Minute zur (Fort-)Bildung nutzt und sich zum Leidwesen seiner „Freundin“ alles Schöne verbietet – selber machen, und zum anderen der Druck, der von der Familie ausgeht. „So was bleibt an der ganzen Familie hängen“, schimpft der Vater, nachdem Christian in der Schule mit sogenannter Nazi-Literatur erwischt wird und den eigentlich „Schuldigen“ nicht verrät. Der jugendliche Held verzweifelt an diesem System. Immer häufiger packt ihn die blinde Wut (vor so viel Dummheit): „Du kannst einfach nicht gewinnen!“ Schon gar nicht als Jugendlicher.
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Das Drehbuch zu „Der Turm“ schrieb Thomas Kirchner. Bereits für „Das Wunder von Berlin“ erzählte er eine DDR-Familiengeschichte, kurz vor dem Mauerfall, die Perspektive der Jugend einnehmend. In dem Film nach Tellkamps Roman sind die Risse, die durch die Familie gehen, noch feiner, die Bedrohung der Familie von außen ist diffiziler. Dass die Charaktere vielschichtig, ihre Psychologie ausgefeilt ist, kann mit der Vorlage zu tun haben, muss aber nicht. Breloer jedenfalls schaffte mit „Die Buddenbrooks“ nicht, was Kirchner und Regisseur Christian Schwochow („Novemberkind“) mit „Der Turm“ gelingt: eine figurenreiche, zeitintensive Filmerzählung, die sich weder bei der Familiensaga noch bei der Dramaturgie der Seifenoper anbiedert. Auch gipfelt die DDR-Ideologie nicht in billiger Rhetorik oder den immergleichen Bildern. Der Film bleibt nah bei den Figuren und Situationen, er zeichnet aus den stimmig erzählten psychosozialen Details heraus den politischen Horizont und nicht umgekehrt. Die Geschichte folgt den Hauptfiguren, zu denen auch noch Richard Hoffmanns Schwager Meno gehört, ein Lektor in Gewissensnöten. Der Film montiert ihre Erfahrungen in subjektiven Episoden. Der (dramaturgische) Eigen-Sinn der Charaktere ist die Stärke des Films. Da wird nicht zum 100. Mal nur der Unrechtsstaat herbeizitiert, da wird erzählt, flüssig, lebendig, mal pointiert, mal verflüchtigt sich ein Nebenplot, wie im Leben. So macht zeitgeschichtliche Fernsehfiktion Sinn – und Spaß! (Text-Stand: 9.9.2012)