Historische Filme ähneln oft dem Besuch eines Freilichtmuseums: Die Details sind perfekt rekonstruiert, doch es fehlt das Leben. Gerade bei den etwas kulissenhaft wirkenden Straßenszenen erliegt auch Nikolaus Leytner der Versuchung, das Ambiente in den Vordergrund zu rücken, aber die Geschichte, ihre Figuren und vor allem die vorzüglichen Schauspieler sind derart gut, dass dieser Einwand kaum der Rede wert ist. Das Drama „Der Trafikant“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Robert Seethaler und handelt vom 17-jährigen Franz Huchel (Simon Morzé) aus der Provinz, den seine Mutter 1937 der Obhut eines Wiener Trafikanten überlässt. Die österreichische Tabaktrafik entspricht am ehesten dem deutschen Kiosk. In den kleinen Läden gibt es Zigaretten, Zeitungen, Zeitschriften und Schulhefte; hier gibt sich die Nachbarschaft buchstäblich die Klinke in die Hand. Auf diese Weise lernt Franz mit Hilfe seines geduldigen Lehrmeisters Otto (Johannes Krisch), der rasch zu einem Vaterersatz wird, viel über die Menschen. Zur Kundschaft gehört auch ein freundlicher alter Herr namens Freud (Bruno Ganz), der den Leuten, wie Otto erklärt, den Kopf zurechtrückt; bildlich gesprochen. Als sich Franz bei einem Volksfest in die die quirlige Böhmin Anezka (Emma Drogunova) verliebt, bittet er den Professor um Rat; auf diese Weise entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem weltberühmten Begründer der Psychoanalyse und dem Trafikantenlehrling.
Nikolaus Leytner, der gemeinsam mit Klaus Richter auch das Drehbuch geschrieben hat, ist einer der wichtigsten österreichischen Regisseure und für sein Triebtäterdrama „Ein halbes Leben“ (2009) mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis geehrt worden. Seine Filme zeichnen sich fast immer durch außerordentlich gute schauspielerische Leistungen aus, zumal er meist mit den Besten arbeitet; sehr gern mit Christiane Hörbiger („Stiller Abschied“), aber auch mit Klaus Maria Brandauer („Die Auslöschung“) oder Matthias Habich („Ein halbes Leben“). Dass Bruno Ganz diese Liste perfekt ergänzt, steht außer Frage. „Der Trafikant“ ist schon allein wegen seiner liebenswürdigen Verkörperung Freuds sehenswert, zumal aus seinem Mund selbst eher banale Ratschläge – „Frauen sind wie Zigarren. Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie den Genuss.“ – wie Weisheiten klingen. Gleiches gilt für Johannes Krisch. Otto, über weite Strecken Titelfigur, ist ein mutiger Mann, der im Ersten Weltkrieg sein Bein verloren hat, aus Prinzip keine NS-Presse verkauft und Juden sowie Sozialisten auch dann noch bedient, als die ersten Schaufenster klirren. Das geht nicht lange gut. Erst entsorgt der benachbarte Nazi-Metzger seine Fleischabfälle in der Trafik, Schmiererei („Hier kauft der Jud“) inklusive, dann wird Otto denunziert und von der Gestapo abgeholt, weil er unterm Ladentisch mit harmlosen Sexheften handelt. Für Krisch wird diese Rolle eine wahre Wohltat gewesen sein; im TV-Krimi muss er meist hartgesottene Gangster verkörpern. Trotzdem steht und fällt der Film mit seinem Hauptdarsteller. Der Wiener Simon Morzé hat für sein junges Alter zwar schon eine beachtliche Filmografie vorzuweisen, die er unter anderem auch Leytner zu verdanken hat, aber der Franz ist seine erste große Rolle; und er macht das fabelhaft. Unter der Führung des erfahrenen Regisseurs sorgt Morzé dafür, dass aus dem anfangs unbedarften Jugendlichen glaubwürdig ein mutiger junger Mann wird. Zunächst reicht seine Tapferkeit aber nur für tollkühne Tagträume, mit denen Leytner immer wieder verblüffende falsche Fährten legt. Wie es gelingt, Franz durch all’ die Unordnung und das frühe Leid, das er erleben muss, charakterlich wachsen und Zivilcourage entwickeln zu lassen: Das ist von Seethaler wunderbar ausgedacht und von Morzé großartig verkörpert.
Das politische Leitmotiv rückt Nikolaus Leytner in seiner Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Robert Seethaler erst allmählich ins Blickfeld. Die akribische Ausstattung und der visuelle Stil spielen dabei eine Schlüsselrolle. Neblige Bergpanoramen im Salzkammergut wirken surreal überhöht. Wälzt Franz sich nach einer Liebesnacht mit Anezka im zuckergussartigen Schnee, dann erscheint das nachgestellte Wien der 30er Jahre künstlich wie in einem amerikanischen Musical. Diese artifizielle Hyperrealität stellt die Perspektive des jungen Franz dar, der in Tagträumen lebt und dessen Liebeswirrnisse in düsteren Traumszenen aufblitzen. Doch selbst der andere Schauplatz, Freuds Bezeichnung für das Unbewusste, wird bald überschattet von dem sukzessiven Einbruch des braunen Terrors, gegen den Franz sich passiv zur Wehr setzt. So hisst er am Ende die einbeinige Hose des verschleppten und ermordeten Otto Trsnjek vor dem Nazi-Hauptquartier als Flagge. (epd film)
Schönes Coming-of-Age-Drama nach Robert Seethalers erfolgreichem Roman um einen jungen Mann vom Land, der Sigmund Freud und die Liebe in Wien kennenlernt und ein politisches Bewusstsein entwickelt. Nikolaus Leytner erzählt es mit viel trockenem Humor, in poetischen Traum-Bildern und auch gebührenden Ernst und hat mit Bruno Ganz als Freud und Johannes Krisch als Trafikant sowie dem jungen Simon Morzé, der als Sohn der Kommissarin in „Schnell ermittelt“ bekannt wurde, ein wunderbares Ensemble für sein liebevoll ausgestattetes historisches Drama. (Blickpunkt:Film)
Außerdem hat der Regisseur gemeinsam mit seinem bevorzugten Kameramann Hermann Dunzendorfer gerade für die bizarren Träume des jungen Mannes eindrucksvolle Bilder gefunden. Kleine makabre Einfälle wie ein dezentes Qualmwölkchen gleich zu Beginn, als der Geliebte von Mutter Huchel nach vollzogenem Beischlaf beim gewitterlichen Bad im See seinen letzten Jauchzer tut, geben dem Film zudem eine gewisse Leichtigkeit, der er trotz der düsteren Zeiten über weite Strecken treu bleiben wird. Dank des heimeligen Lichts wird die Trafik für Franz, der im Hinterzimmer schläft, zunehmend zum behaglichen Refugium. Hier erlebt er dank Anzeka auch die aufregendste Nacht seines Lebens. Die in Russland geborene, aber in Berlin aufgewachsene Emma Drogunova, bislang bloß Nebendarstellerin in diversen TV-Produktionen, ist eine treffende Besetzung für die gleichermaßen kesse wie attraktive Böhmin. Die Welt draußen wird dagegen nach dem Anschluss Österreichs im Frühjahr 1938 immer kälter. Als Franz das erste Mal den Nachtclub besucht, in dem Anzeka als Nackttänzerin auftritt, gibt ein Kabarettist noch eine Hitler-Parodie zum Besten, beim zweiten Mal grassiert der Antisemitismus; angesichts der aktuellen politischen Entwicklung nicht die einzige erschreckende Parallele zur Gegenwart. (Text-Stand: 28.10.2018)