Ein unbescholtener Bürger gerät ins Visier eines omnipräsenten Überwachungsstaats, weil er einem ungeheuerlichen Komplott auf die Spur gekommen ist und deshalb beseitigt werden soll: Das Kino hat diese Geschichten schon erzählt, als die meisten Menschen noch nie von der NSA gehört hatten und Mark Zuckerberg noch gar nicht auf der Welt war. Im New Hollywood Mitte der Siebziger hat es eine ganze Reihe solcher Filme gegeben, darunter „Der Dialog“ (Regie: Francis Ford Coppola, 1974) „Zeuge einer Verschwörung“ (Alan J. Pakula, 1974) und „Die drei Tage des Condor“ (Sydney Pollack, 1975). Später folgte unter anderem „Der Staatsfeind Nr. 1“ (Tony Scott, 1998), und auch die „Bourne“-Reihe gehört im weitesten Sinn in dieses Genre: Ein Mann wird gejagt und muss seine Unschuld beweisen. Das deutsche Fernsehen hat mit „Unterm Radar“ (ARD 2015) und „Das Joshua-Profil“ (RTL 2018) ebenfalls interessante Beiträge geliefert. Diese Filme sind Beleg dafür, dass ein TV-Movie dem Vergleich mit den Hollywood-Produktionen durchaus standhalten kann: weil sie auch mit einem Bruchteil des Aufwands große Spannung erzeugt haben; und deshalb ist der Sat-1-Zweiteiler „Der Staatsfeind“ eine gelinde Enttäuschung (und er kostet doppelte Lebenszeit).
Soundtrack: David Bowie („Space Oddity“), The Animals („House of the Rising Sun”), Bilderbuch („Maschin”), Portishead („Glory Box”), Metallica („Enter Sandman”), Eminem feat. Rihanna („Love the Way You Lie”)
Dabei hat die Geschichte (Drehbuch: Jan Ricken, Roderick Warich) großes Thriller-Potenzial: Als eine befreundete Kollegin während einer Schießerei in einem Münchener Hotel per Funk Unterstützung anfordert, eilt der Münchener Kommissar Robert Anger (Henning Baum) zum Tatort und muss hilflos mit ansehen, wie die Polizistin erschossen wird. Wenige Stunden später ist nichts mehr, wie es kurz zuvor noch war: Plötzlich gilt Anger nicht nur als Mörder seiner Kollegin, sondern auch als islamistischer Terrorist, der einen Anschlag vorbereitet. Der Kommissar wird zur meistgesuchten Person Deutschlands. Die Verantwortlichen des Komplotts verfügen offenbar über genügend Macht, um Beweise zu fälschen und Zeugenaussagen zu manipulieren. Außerdem haben sie Zugriff auf sämtliche Kameras, und das nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in der Redaktion der großen Münchener Zeitung, für die Roberts Frau Rebecca (Franziska Weisz) arbeitet; sie und seine heranwachsende Tochter sind die einzigen, die an seine Unschuld glauben.
Gemäß dem für viele Filme dieser Art üblichen Muster beginnt „Der Staatsfeind“ mit einer Szene, in der Anger verfolgt und beschossen wird; in den TV-Nachrichten wird er als Terrorist gesucht. Es folgt der erwartbare Schnitt („36 Stunden vorher“), denn nun wird die Fallhöhe etabliert: Die Angers sind eine offenkundig glückliche Familie, die einen fröhlichen Grillabend mit ihren Freunden Miki (Max von Thun) und Vicky (Kathrin von Steinburg) verbringen. Vicky ist die Polizistin, die am nächsten Tag in Angers Armen sterben wird; sie erwartet ein Baby. Tags darauf treffen sich zwei Männer in besagtem Hotel, das Gespräch wirkt konspirativ, die Rede ist von Sprengköpfen. Ein Zimmerkellner führt sichtbar Böses im Schilde, es kommt zur Schießerei, die sich vor dem Gebäude fortsetzt. Das LKA übernimmt den Fall. Die leitende Ermittlerin, Sabine Puttkammer (Natalia Rudziewicz), hat allerdings Zweifel an Angers Version, die sich bald darauf zu bestätigen scheinen, als die Indizien belegen, dass die Polizistin an einer Kugel aus seiner Waffe gestorben ist. Anger muss untertauchen und die Hintermänner finden. Drahtzieher des Komplotts ist Generalmajor Mendt (Manfred Zapatka) vom Militärischen Abschirmdienst, aber der Kommissar hat keine Ahnung, warum er zum Abschuss freigegeben worden ist.
Der Stoff bringt also alles mit, was ein packender Thriller braucht; aber für Spannung sorgt im Grunde allein die Musik von Arash Safaian. Regisseur Felix Herzogenrath hat zuletzt neben diversen Serienfolgen („Ein Fall für zwei“, „Die Bergretter“) die eher schwächere „Nord bei Nordwest“-Episode „Waidmannsheil“ (ARD 2018) sowie für Sat 1 den immerhin fesselnden Abenteuerfilm „Gefangen im Paradies“ (2016) gedreht. „Der Staatsfeind“ hat zwar neben einigen Verfolgungsjagden und Schießereien auch eine spektakuläre Szene zu bieten, in der Anger über das Zeltdach des Olympiastadions flieht, aber Nervenkitzel kommt nur selten auf. Das ist nicht nur eine Frage von Inszenierung und Schnitt, sondern auch von Besetzung und Darstellerführung. Henning Baum ist als uneingeschränkter Sympathieträger fraglos die perfekte Identifikationsfigur, erst recht dank „Der letzte Bulle“ fürs Sat.1-Publikum. Franziska Weisz hätte eine Rolle mit mehr Möglichkeiten verdient gehabt; Rebecca ist im Wesentlichen die Frau an seiner Seite, selbst wenn ihr schließlich ein Video zugespielt wird, das den wahren Ablauf der Ereignisse dokumentiert. Auf diese Weise kommt es auch zu der etwas konstruiert eingefädelten, aber sehr aufwändig wirkenden Szene im Olympiastadion, als das Ehepaar während eines Metallica-Konzerts von den MAD-Schergen gejagt wird. Die weiteren Figuren sind jedoch bloß Pappkameraden. Manfred Zapatka verkörpert den Generalmajor als eiskalten Apparatschik, dem jedes Mittel recht ist, um seine Ziele zu erreichen, weshalb er Kollateralschäden billigend in Kauf nimmt; das funktioniert, weil der Schauspieler schon viele Figuren dieser Art auf exakt diese Weise gespielt hat. Ein größeres Manko ist Natalia Rudziewicz. Die LKA-Ermittlerin muss sich am Ende für eine Seite entscheiden; sie hat es in der Hand, ob Anger rehabilitiert wird. Über weite Strecken des Zweiteilers ist sie jedoch ebenso Antagonistin wie Mendt, und deshalb wäre es wichtig gewesen, die Figur mit einer Darstellerin zu besetzen, die Henning Baum gewachsen ist. In einzelnen Datenbanken kursiert noch der Name Jasmin Gerat, die aber vor Beginn der Dreharbeiten absagen musste. Sie hätte vermutlich das richtige Format für die Rolle gehabt. Rudziewicz hingegen hat weder der Präsenz Baums noch dem Zynismus Zapatkas etwas entgegenzusetzen, auch wenn Herzogenrath versucht, die LKA-Beamtin als düstere Figur zu inszenieren.
Der Film hätte trotzdem funktionieren können, wenn der Regisseur ihn konsequenter als Thriller umgesetzt hätte. Es gibt einige interessante Momente, die nicht den Erwartungen entsprechen, wenn Herzogenrath zum Beispiel bei einer Schießerei auf entsprechende Geräusche verzichtet und stattdessen ganz auf die Wirkung der in diesem Augenblick melodramatischen Musik setzt, als Vicky erschossen wird und die Menschen in Superzeitlupe fliehen. Für Irritation sorgt allerdings der Umstand, dass Vickys Mörder, ein Informant Mendts, die Polizistin scheinbar gezielt ins Visier nimmt. Ähnlichen bemerkenswert wie der Verzicht auf Geräusche ist die diametrale Methode, wenn sich die Action nur auf der Tonspur abspielt und anstelle eines Kampfes das Gesicht der in einer Toilette versteckten Ohrenzeugin Rebecca zu sehen ist. Kurz drauf setzt Herzogenrath wieder auf den Musikeffekt und untermalt einen Zweikampf Angers mit Klängen wie zu einem romantischen Pas de deux. Diese gelungenen Szenen unterstreichen allerdings auch, dass „Der Staatsfeind“ ein großer Film hätte werden können; so hat er nur eine große Musik zu bieten. (Text-Stand: 25.4.2018)