„Der Seewolf“ schrieb Fernsehgeschichte. Der Film war einer jener legendären Advents-Vierteiler im ZDF, die seit Mitte der 60er Jahre zur Vorweihnachtszeit gehörten wie die Kerzen auf dem Adventskranz. Raimund Harmstorf nahm am 5. Dezember 1971 mit der „Ghost“ vier Wochen lang Fahrt auf. Unvergessen die Szene, in der der Schauspieler eine rohe Kartoffel mit bloßer Hand zerdrückte. Auf der TV-Nostalgieskala rangiert der Abenteuerfilm von Regie-Altmeister Wolfgang Staudte stets ganz oben, die DVD-Veröffentlichung im Jahre 2004 zahlte sich dementsprechend aus.
Wen wundert es da, dass Pro Sieben nach dem Erfolg seines Remakes der „Schatzinsel“ nun auch Jack Londons „Seewolf“ wiederentdeckt hat. Und der Sender ist nicht der einzige. Auch die Tele München, die den TV-Klassiker einst produziert hatte, befindet sich in der Postproduktion einer „Seewolf“-Verfilmung fürs ZDF. Dem Pro-Sieben-Film gerichtlich den Titel zu untersagen, gelang nicht. So wird es nun zwei „Seewölfe“ innerhalb eines Jahres geben. Für das ZDF wird Grimme-Preisträger Sebastian Koch („Das Leben der Anderen“) den Kartoffelpürierer spielen, auf Pro Sieben indes wird heute und morgen unser Mann in Hollywood, Thomas Kretschmann („King Kong“), das charismatische Monstrum in Menschengestalt verkörpern.
Foto: Pro Sieben / Fabian Roesler
Auch für ihn, den ehemaligen DDR-Leistungsschwimmer, gehörte „Der Seewolf“ zu den frühesten und intensivsten Fernseherinnerungen. Auch das DDR-Fernsehen zeigte den Straßenfeger des Klassenfeinds, allerdings neu synchronisiert und ohne Nennung des ZDF. „Damals saßen wir noch in Baumhäusern und lasen Robinson Crusoe“, erinnert sich Kretschmann, „und heute sitzen die Kids vor Computerspielen.“ Dennoch hofft der 1983 aus der DDR geflohene Schauspieler, dass die Pro-Sieben-Neuverfilmung des Romans von Jack London seine Zuschauer finden wird. Auf Nummer sicher jedenfalls geht der Film von „Bibelcode“-Regisseur Christoph Schrewe nicht. Zwar sind alle Ingredienzien versammelt, die ein zünftiges Seeabenteuer auszeichnen, Haie, Unwetter, Schiffbrüchige, Meuterei, Mord und Totschlag, auch eine Brise hauchzarter Liebe und Robinson-Crusoe-Romantik ist im Spiel, doch der Film enthält auch längere Passagen, in denen der Philosophie das Wort geredet wird. „Man bekommt viel zu sehen und auch noch etwas zum Nachdenken obendrauf“, bilanziert Schrewe.
Erzählt wird vom archaischen Kampf zwischen Instinkt und Intellekt, zwischen Macht und Moral, zwischen Alphatier und Weltversteher. Der schiffbrüchige Literaturkritiker Humphrey van Weyden wird von Kapitän Wolf Larsen auf seinem Robbenschoner aufgenommen. Der junge Schöngeist wird gegen seinen Willen an Bord festgehalten. Hier führt Larsen ein eisernes Regiment, schikaniert und quält die Besatzung, spielt Herrscher über Leben und Tod. Auch van Weyden bekommt den Unmenschen Larsen zu spüren, erfährt aber auch eine andere Seite: Larsen liebt Bücher, verleibt sich deren Gedanken ein und lebt strikt nach Darwins Lehre vom Recht des Stärkeren und Nietzsches Übermensch-Theorie. Van Weyden, mit der richtigen Mischung aus Emotion und Distanz von Florian Stetter gespielt, lernt schnell, gewöhnt sich an die rauen Sitten an Bord und steigt vom Küchenjungen zum Steuermann auf.
„Der Seewolf“ 2008 ist für Thomas Kretschmann „ein Road-Movie auf dem Wasser, kein plattes Actionfernsehen, sondern telegene Suche nach dem Sinn des Lebens“. Der Parabel-Charakter ist offensichtlich. Interpretierbar ist das Drehbuch von Holger Karsten Schmidt („Die Sturmflut“) in viele Richtungen: Tyrannei contra Humanität, Totalitarismus contra Demokratie, Naturgewalten im freien Spiel. Ein mutiges Unterfangen – auch weil die Macher auf jegliche Helden-Ikonografie und Genre-Ironie Marke „Flucht der Karibik“ verzichten. Und doch klafft eine Lücke zwischen Philosophie und Action. Trotz zweier überzeugender Hauptdarsteller und gekonnter Regie besitzt insbesondere der erste Teil etliche Längen. Fernsehgeschichte wird dieser „Seewolf“ nicht schreiben. (Text-Stand: 24.11.2008)