Der Schneegänger

Nadja Bobyleva, Max Riemelt, Elisabeth Herrmann, Rusnak. Von Wölfen & Lämmern

Foto: ZDF / Gordon Muehle
Foto Tilmann P. Gangloff

Das intensive Krimidrama „Der Schneegänger“ (Arte, ZDF / Network Movie) erzählt von Kroaten, die während des Bürgerkriegs in Jugoslawien nach Deutschland emigriert sind. Der Krieg ist aber offenbar mitgekommen: Als die Leiche eines über längere Zeit misshandelten Jungen gefunden wird, fällt der Verdacht auf den Vater. Eine kroatischstämmige Polizistin, selbst an Leib und Seele gezeichnet, spürt intuitiv, dass der Mann unschuldig ist, und stößt schließlich auf die grausige Wahrheit. Josef Rusnak hat Elisabeth Herrmanns Roman gemeinsam mit der Autorin adaptiert. Weil der Regisseur die Krimiebene zwar konzentriert, aber sachlich inszeniert hat, ist der biografische Hintergrund der jungen Heldin fast zwangsläufig ungleich spannender, zumal sich eine alptraumhafte Erinnerung an ihre Kindheit wie ein roter Faden durch den Film zieht. Die Bildgestaltung ist von besonderer Sorgfalt.

In den frühen 90er Jahren sind viele Familien vor dem Bürgerkrieg im einstigen Jugoslawien nach Deutschland geflohen. Trotzdem war das Schicksal dieser Immigranten selten Thema im deutschen Fernsehfilm. In dem Drama „Der Schneegänger“ geht es zwar vordergründig um die Ermordung eines Jungen, doch ohne den Hintergrund des Krieges wäre die Geschichte bloß ein Krimi wie viele andere. Der Film basiert auf Elisabeth Herrmanns gleichnamigen Roman und beginnt mit einem Prolog, der sich als Rückblende entpuppt: Der elfjährige Dario ist mit seinem Vater im winterlichen Wald unterwegs. Darko Tudor (Stipe Erceg) ist Wildhüter in Brandenburg und will einen kranken Wolf erschießen. Trotz der Erklärung des Vaters – „Das Schwache macht dem Starken Platz“ – verhindert der Junge den Abschuss.

Soundtrack: José Gonzalez („With The Ink Of A Ghost“), Bon Iver („Skinny Love”), Angel Olsen („Sweet Drams”), Sophie Ellis-Bextor („Murder On The Dancefloor”), Billie Ellish („All The Good Girls Go To Hell”)

Der SchneegängerFoto: ZDF / Gordon Muehle
Von der Putzfrau zur Hausherrin: Lida Tudor (Edita Malovcic). Bernhard Schir

In der Gegenwart wird ganz in der Nähe Darios Leiche gefunden. Rippenbrüche, fehlende Zähne sowie Brandnarben dokumentieren, dass das vor zwei Jahren verschwundene Kind über längere Zeit grausam misshandelt worden ist, und eine Polizistin macht sich große Vorwürfe: Damals hat ein Junge auf Kroatisch den Polizeinotruf gewählt. Weil Wachtmeisterin Sanela (Nadja Bobyleva) die Sprache spricht, hat sie einen Kollegen in das mondäne Berliner Viertel begleitet, doch in der Villa von Familie Reinartz schien alles in Ordnung. Hätte sie damals nicht auf ihren Vorgesetzten, sondern auf ihre Intuition gehört, könnte Dario vielleicht noch leben. Daher bittet sie Kommissar Gehring (Max Riemelt), ihn zu den Eltern des Jungen begleiten zu dürfen. Verblüfft stellen die beiden fest, dass die frühere Putzfrau Lida Tudor (Edita Malovcic), wie Sanela gebürtige Kroatin, mittlerweile die Hausherrin ist: Kurz nach dem Verschwinden ihres Sohnes hat sie ihren Arbeitgeber (Bernhard Schir) geheiratet. Angeblich ist der Junge damals entführt und dann wohl ermordet worden, als den Kidnappern klar wurde, dass sie ihn mit dem gleichaltrigen Sohn von Reinartz verwechselt haben. Während sich Gehrings Ermittlungen auf Darios Vater konzentrieren, wird Sanela vom älteren Sohn der Familie dabei erwischt, wie sie ohne Erlaubnis in der Villa herumschnüffelt. Kurzerhand gibt sie sich als neues Hausmädchen aus, stößt schließlich auf ein düsteres Geheimnis und gerät prompt selbst in Lebensgefahr.

Weil Regisseur Josef Rusnak, der den Roman gemeinsam mit der Autorin adaptiert hat, die Krimiebene zunächst zwar konzentriert, aber sachlich inszeniert, ist der biografische Hintergrund der Heldin fast zwangsläufig ungleich spannender, zumal sich eine alptraumhafte Erinnerung an die Kindheit in Kroatien wie ein roter Faden durch den Film zieht; das Trauma, das Sanela mit fünf Jahren erlebt hat, prägt sie bis heute. Dazu passt auch ihre Einführung: Als Gehring sie zu Beginn im Boxclub ihres Vaters (Ralph Herforth) abholt, wird er Zeuge, wie sie sich im Ring mit einer Gegnerin einen Kampf wie auf Leben und Tod liefert. Später wird der Vater sagen, sie habe zu viel Wut in sich. Sanela ist einst vor dem Krieg geflohen, hat ihn aber mitgebracht; genauso wie das Ehepaar Tudor. Darkos Wut entlädt sich, als er beinahe seine Exfrau erwürgt; Sanela kann Lida gerade noch retten, und weil die emotionale Ausnahmesituation die alten Erinnerungen heraufbeschwört, fragt sie sich, ob der Wildhüter womöglich auch der mörderische Protagonist ihrer Alpträume ist.

Der SchneegängerFoto: ZDF / Gordon Muehle
Eine echte Kämpferin: die Kroatin Sanela Beara (Nadja Bobyleva). Ralph Herforth

Kein Wunder, dass Nadja Bobyleva deutlich mehr Präsenz hat als Max Riemelt: Sanela ist als Rolle eindeutig interessanter als die Figur des Kollegen, der zudem meist nur Gemeinplätze von sich geben darf. Damit Gehring zumindest ein bisschen Tiefe bekommt, streuen Herrmann und Rusnak beiläufig ein paar biografische Details ein (ein verwaistes Kinderzimmer, ein Schreiben vom Scheidungsanwalt, ein Tinder-Date). Trotzdem ist der Kommissar Projektionsfläche, weil er ähnlich wie die Zuschauer zunächst nicht schlau aus Sanela wird, die wenig bis gar nichts von sich preisgibt. Die Rückblenden in ihre Kindheit offenbaren zwar von weitere Details, lassen aber offen, wie das Mädchen damals davongekommen ist.

Sehr sorgfältig ist die Bildgestaltung (Cristian Pirjol). Bei der ersten Begegnung mit Lida Tidor gönnt sich die Kamera von den Füßen aufwärts einen langen Schwenk über die sichtlich teure Kleidung, als wäre sie ein alter Bekannter, der die Frau lange nicht gesehen hat und verblüfft über ihren sozialen Aufstieg ist. Eine immer wiederkehrende Einstellung zeigt die zögernde Sanela in der Reinartz-Villa vom Fuß der Kellertreppe aus; aus dem Hintergrund erklingen Hilferufe. Die fließenden Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, als sich die Polizistin Zutritt zum Haus verschafft und Blicke oder Kamerabewegungen mehrfach in die Rückblende überleiten, sind großes Handwerk (Schnitt: Dirk Grau). Sehr präsent ist auch bis zum bitteren Finale die mal elektronische, mal sinfonische Musik (Mario Grigorov).

„Der Schneegänger“ ist Elisabeth Herrmanns zweiter Roman über Sanela Beara. Den ersten hat Niki Stein (Buch und Regie) unter dem Titel „Das Dorf der Mörder“ (2015) verfilmt, ebenfalls fürs ZDF. Alina Levshin war als Heldin damals ähnlich intensiv und überzeugend wie jetzt Bobyleva. Der Unterschied zwischen den jeweiligen Spielpartnern könnte dagegen kaum größer sein: Bei Stein hat Jürgen Tarrach den älteren Kommissar verkörpert. Für die Qualität der neuen Verfilmung nicht wesentlich, aber interessant: Stipe Erceg ist tatsächlich gebürtiger Kroate, die Eltern der in Wien zur Welt gekommenen Edita Malovcic stammen aus Bosnien. Bobyleva (1983 in Moskau geboren) ist im Grunde zu alt für die Rolle, geht aber glaubwürdig als junge Beamtin durch. (Text-Stand: 15.2.2020)

Der SchneegängerFoto: ZDF / Gordon Muehle
Wolfsjagd: Darijo (Talin Bartholomäus) mit seinem Vater Darko Tudor (Stipe Erceg)

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Fernsehfilm

Arte, ZDF

Mit Nadja Bobyleva, Max Riemelt, Stipe Erceg, Edita Malovcic, Emil Belton, Ralph Herforth, Bernhard Schir, Jörg Pose, Lui Eckardt, Talin Bartholomäus

Kamera: Cristian Pirjol

Szenenbild: Marcus A. Berndt

Kostüm: Nana Kolbinger

Schnitt: Dirk Grau

Musik: Mario Grigorov

Redaktion: Daniel Blum (ZDF), Olaf Grunert (Arte)

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Elisabeth Herrmann, Josef Rusnak – Romanvorlage: Elisabeth Herrmann

Regie: Josef Rusnak

Quote: ZDF: 6,22 Mio. Zuschauer (18,9% MA)

EA: 13.03.2020 20:15 Uhr | Arte

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