„Alles hängt mit allem zusammen“: Wäre Norah Richter noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, würde sie ihre Schlussfolgerungen spätestens jetzt hinterfragen, schließlich ist der Satz das Mantra aller Verschwörungsgläubigen; doch in diesem Moment steckt die Journalistin bereits rettungslos in einer Abwärtsspirale. Längst ist zur Obsession geworden, was Anfang Juli mit einer Prophezeiung begann. Am 13. August werde sie im Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten, lautete die Weissagung einer Bettlerin: „aus gutem Grund und freien Stücken“. Weil ein Dieb ihr im nächsten Moment die Handtasche klaute, geht ihr Umfeld von einem Trick aus; die vermeintliche Vorhersage sollte sie bloß ablenken. Aber die Botschaft lässt Norah nicht mehr los. Sie beginnt zu recherchieren und findet nicht nur ihr angekündigtes Opfer, sondern tatsächlich auch eine Verbindung: Offenbar war Grimm einst der doppelt so alte Freund ihrer Jugendfreundin Valerie, die sich mit 16 Jahren das Leben genommen hat. Die traumatische Erfahrung begleitet Norah bis heute, doch je mehr sie über Grimm herausfindet, desto größer wird ihre Überzeugung, dass der Mann Valerie auf dem Gewissen hat.
Soundtrack:
Voodoo Jürgens („Heite grob ma Tote aus“), Arcade Fire („Rebellion“), Bilderbuch („Maschin“), Philip Glass („Einstein On The Beach“), Kyrill & Redford („7 Days“) 10cc („I’m Not In Love“), Granada („Wien wort auf di“), The Pointer Sisters („I’m So Excited“), Radiohead („Everything In Its Right Place“), Anton Karas („Der dritte Mann”), The Jesus and Mary Chain („Just Like Honey”)
Schon allein dieser Teil der Geschichte hätte das Zeug zu einem Klassekrimi, aber die sechsteilige Serie „Der Schatten“ hat noch viel mehr zu bieten. Das auf dem gleichnamigen Roman von Melanie Raabe basierende Drehbuch von Stefanie Veith und Koautor Michael Comtesse – das Duo hat auch die fesselnden „Auris“-Thriller (2022, RTL) nach der Hörspiel- und Romanreihe von Sebastian Fitzek und Vincent Kliesch adaptiert – bettet die Ereignisse in einen nicht minder faszinierenden Rahmen: Norah (Deleila Pilasko), um die dreißig, hat in Berlin die Machenschaften einer Mobbing-Agentur angeprangert und daraufhin ihren Job verloren. In Wien will sie bei einem neu gegründeten Magazin von vorn anfangen. Ihr erster Auftrag ist das Porträt eines gleichermaßen berühmten wie berüchtigten Künstlers: Wolfgang Balder (Andreas Pietschmann) hat eine Frau dazu gebracht, sich für ein Projekt das Gesicht mit einem Skalpell zu verunstalten. Es stellt sich heraus, dass der Mann unheilbar krank ist und nicht mehr lange zu leben hat; der Artikel soll so etwas wie sein Vermächtnis werden. Ähnlich wie der Krebs im Körper des Künstlers – der Titel bezieht sich sowohl auf Balders Krankheit wie auch auf Norahs Schuldgefühle – wuchert im Kopf der Journalistin eine fixe Idee: Sie will Grimm (Christoph Luser) des Mordes an Valerie überführen. Sehr zur Freude eines intriganten Kollegen (Aaron Friesz), der ebenfalls scharf auf das Künstlerporträt ist, wird ihre Arbeit zunehmend zweitrangig. Schließlich steigert sich Norah derart in ihre Besessenheit hinein, dass einem durchaus wohl gesonnenen Polizisten (Karl Fischer) keine andere Wahl bleibt, als sie in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Auch ihre Freunde haben sich von ihr abgewandt; der einzige Mensch, dem sie noch vertrauen kann, ist eine verständnisvolle Nachbarin (Luisa-Céline Gaffron).
Selbst eine stilistisch und handwerklich nicht weiter aus dem Rahmen fallende Umsetzung hätte aus dem vorzüglichen Drehbuch vermutlich eine fesselnde Serie gemacht, aber Nina Vukovics Inszenierung ist mindestens kongenial. Allein die preiswürdige Bildgestaltung ist ein Genuss: Wien erlebt den heißesten Sommer seit Jahren. Kameramann Pascal Schmit hat den Aufnahmen daher einen mediterranen Look gegeben: Die Bilder werden von leicht verblassten Pastelltönen dominiert, als habe die Sonne die Farben verblassen lassen; bei den Innenaufnahmen wecken Aerosole die Assoziation zu einem erhitzten Dachboden. Anfangs scheinen die Temperaturen Norah nichts auszumachen, aber je mehr sich ihre Suche nach der Wahrheit zur Zwangsvorstellung entwickelt, desto stärker macht ihr die Hitze zu schaffen; neben den Schweißflecken dokumentieren auch die immer größeren Augenringe ihren allmählichen Verfall. Die an Klassiker des Genres erinnernde Musik (Dominik Giesriegl) tut ein Übriges, um die junge Frau in den Wahn zu treiben. Für zusätzliche Spannung sorgt ein regelmäßig eingeblendeter Countdown („Noch x Tage bis zum 13. August“).
Das Ensemble ist klug zusammengestellt; das gilt auch und gerade für Julia Anna Grob als Norahs junges Alter Ego und Annely Gerda Prey als Valerie, die beide in den häufigen Rückblenden sehr präsent sind. Für die Schweizerin Deleila Piasko ist die Hauptfigur dieses auch über viereinhalb Stunden nonstop packenden Psychothrillers eine Figur, von der vermutlich jede Schauspielerin ihres Alters träumt. Die facettenreiche Rolle umfasst ein Spektrum, das vom anfänglichen demonstrativen Selbstbewusstsein einer ebenso attraktiven wie erfolgreichen Journalistin bis zur kompletten psychischen und physischen Demontage reicht. Zunächst sind es nur Details, die für Irritationen sorgen, aber dann beschleicht Norah das unbehagliche Gefühl, dass jemand nach Belieben in ihrer Wohnung ein und aus geht: Dinge verschwinden und tauchen wieder auf, ein Flugblatt am Kühlschrank – „Sind wir wirklich sicher?“ – hängt immer wieder beharrlich schief, so oft sie es auch gerade rückt. Das Drehbuch verrät zwar bereits gegen Ende von Episode drei, dass Norah als Opfer eines teuflischen Komplotts auf Schritt und Trott überwacht wird, aber dieses Wissen erweist sich letztlich als raffinierter Kniff, um die abschließende Folge mit dem Showdown im nächtlichen Prater und einem weiteren Knüller im Epilog umso verblüffender wirken zu lassen.
Piasko war die Attraktion von Leander Haußmanns „Stasikomödie“ (2022) und des ARD-Zweiteilers „Das Weiße Haus am Rhein“ (2022). Als Fluchthelferin in der Netflix-Serie „Transatlantic“ (2023) hat sie die Basis für eine internationale Karriere gelegt; gut möglich, dass ihr der deutschsprachige Raum bald zu klein wird. Ähnlich verheißungsvoll dürfte sich die Karriere von Vukovic entwickeln. Mit Veith hat sie bereits als Koautorin beim „Tatort“ aus Zürich zusammengearbeitet, aber deutlich sehenswerter war ihr Kölner Sonntagskrimi „Schutzmaßnahmen“ (2023). Ihr Regiedebüt war „Detour“, ein im Auftrag des Kleinen Fernsehspiels vom ZDF entstandener Beziehungs-Thriller (2017). Es folgte „Am Ende der Worte“, 2022 im Rahmen der NDR-Nachwuchsreihe „Nordlichter“ ausgestrahlt, ein fast dokumentarisch gestaltetes Spielfilmporträt einer jungen Polizistin, die nach ihrer Ausbildung mit der rauen Realität konfrontiert wird. Selbst Vukovics Pilcher-Film „Vier Luftballons und ein Todesfall“ (2022) war sehenswert. „Der Schatten“ ist ihr Meisterstück.