Wer sich fragt „Wozu Privatfernsehen?“, findet hier eine interessante Antwort: Der wahre „Fall Wulff“ ist vor Gericht noch nicht vollends ausgestanden, da kündigt Sat.1 schon einen Film über den Rücktritt des Bundespräsidenten an. Die Verfilmung der Ereignisse so zeitnah anzugehen, war wegen des ungewissen Ausgangs des Verfahrens ein Wagnis. Eines, das nur Sat 1 eingehen wollte. Er habe, so wurde Produzent Nico Hofmann im Vorfeld nicht müde zu betonen, den Stoff allen deutschen Fernsehfilmredaktionen angeboten. Auf den ersten Blick ist es ein Treppenwitz, dass nicht etwa das Informations-Erste oder das Zweite Deutsche Staatsfernsehen zugriff, sondern ausgerechnet ein aufs Unterhaltsame programmierter Privatsender. Andererseits: Ob der echte Christian Wulff von allen Vorwürfen freigesprochen wird oder nicht, ist tatsächlich nur in einem Programmumfeld, in dem die gefühlte Wahrheit oft mehr als die juristische gilt, nicht so wichtig, wenn nicht gar gleichgültig. Dennoch haben die Initiatoren von „Der Rücktritt“ sich nicht auf dem einfachsten Weg aus der Affäre gezogen und den Fall Wulff zu einer billigen Burleske degradiert. Im Gegenteil. Der Film bemüht sich um Ausgewogenheit und will vor allem emotional nachvollziehbar machen, was Christian und Bettina Wulff widerfuhr und was sie vielleicht doch selbst verursacht haben.
Foto: Sat 1 / Stefan Erhard
Der Dokumentarfilmer Thomas Schadt („Der Kandidat“) hat sich als Leiter der Filmakademie Baden-Württemberg hinter der Kamera zuletzt rar gemacht; für die Idee, Wulffs Rücktritt als Doku-Drama zu verfilmen, ließ er sich aber verpflichten. Das Drehbuch entwickelte er gemeinsam mit dem Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer. Die Erzählzeit des Films verdichteten die beiden auf jene 68 Tage zwischen der ersten Anfrage des Bild-Redakteurs Martin Heidemann nach Wulffs Hausfinanzierung (am 20. Dez. 2011) und dem Rücktritt des Bundespräsidenten am 17. Februar 2012. Die chronologische Rekonstruktion schildert die dazwischen liegende Ereignislawine aus der Innenperspektive der Bellevue-Bewohner und der Außenperspektiven der journalistischen Öffentlichkeit. So vermittelt sich die emotionale Ausnahmesituation, in die der Bundespräsident geriet, besonders eindrücklich: Schadt und Fleischhauer machen Wulff zu einem Fisch im Aquarium, der von allen beglotzt wird, sich aber der Öffentlichkeit selbst nicht angemessen mitteilen kann. Statt seinem Spindoctor Glaeseker zu vertrauen, hört er auf seine eigene, innere Stimme, die ihm „keine juristischen Fehler“ zuflüstert. Statt einen beschwichtigenden Schritt auf die Medien zuzugehen, sagt er dem Springer-Verlag einen Kampf an, den er als Staatsoberhaupt verlieren muss.
Viel mehr als in seinen früheren Doku-Dramen – „Der Mann aus der Pfalz“ (2009) über Helmut Kohl oder „Carola Stern – Doppelleben“ (2004) – positioniert sich Thomas Schadt hier als „teilnehmender Beobachter“. Statt am Rande des Geschehens mit dem historischen Abstand zu rekonstruieren, tritt er in diesem Zeitstück einen entscheidenden Schritt nach vorne. Dass jede Szene als Statement gedeutet werden wird, muss ihm schon bei der Zusage bewusst gewesen sein. Schadts Interpretation der historischen Ereignisse ist zurückhaltend, aber nicht meinungslos. Seine Inszenierung ist mitfühlend, aber nicht mitleidend. Die Dramaturgie lässt zu, dass sich der Zuschauer in die klaustrophobische Situation im Schloss Bellevue eindenken kann, dass nachvollziehbar wird, wieso mit jeder neuen Presseanfrage der Amtssitz mehr zu Wulffs Trutzburg wird. Andererseits werden auch die Fehler des Berufspolitikers nicht heruntergespielt: Die Hybris, mit der Wulff meint, die Journalistenmeute durch einen Anruf beim Bild-Chefredakteur zurückpfeifen zu können. Der missglückte Auftritt im Fernsehen, die Kaltschnäuzigkeit, mit der Wulff in seinem engen Beraterumfeld Bauernopfer suchte, um sein eigenes Fehlverhalten auf andere abwälzen zu können. „Der Rücktritt“ erwägt weniger die politische Dimension des Skandals, sondern konzentriert sich auf emotionale Werte wie Ehrlichkeit, Vertrauen, Treue oder Einsichtsfähigkeit.
Foto: Sat 1 / Stefan Erhard
In Kai Wiesinger und Anja Kling hat „Der Rücktritt“ die perfekten Schauspieler für diese eher „private“ Inszenierung gefunden. Sie folgen ihren Figuren und distanzieren sich zugleich von ihnen als Vorbilder. Gerade das Widersprüchliche daran ist verblüffend produktiv: Kai Wiesinger als Christian Wulff ist der parkettsichere Schauspieler, der einen Tölpel spielt. Während Christian Wulff ein bodenständiger Landespolitiker ist, der gerne auf dem großen Parkett der Weltpolitik zuhause wäre. Anja Kling spielt uns vor, wie Bettina Wulff mit der Öffentlichkeit spielt. Eben noch ausgebrannt und verzagt, tritt sie in der nächsten Szene strahlend und selbstsicher vor die Kamera. Und wir alle können Klings Schauspielerei erkennen, was für einen guten Schauspieler vielleicht die schwierigste aller Übungen ist. Jederzeit müssen sich Kling und Wiesinger an den Kamerabildern messen, die das glamouröse Präsidentenpaar zeigen. Und es geschieht etwas mit den eingebetteten Bildokumenten: Die Inszenierung färbt auf sie ab! Plötzlich erkennt man viel deutlicher als in den Nachrichten die Anspannung hinter dem Lächeln von Bettina Wulff, hört das Ungelenke in der juristisch unangreifbaren Formulierung, um die hinter den Kulissen so lange gerungen worden war.
Die klassischen Doku-Dramen wie sie Heinrich Breloer mit „Das Todesspiel“ oder „Die Manns“ früher vorgelegt hat, kompilierten Reenactments mit Zeitzeugenerinnerungen. Wer wissen wollte, wie sich Kanzler Schmidt während der Entführung der „Landshut“ fühlte, musste ihn befragen. Wer wissen will, mit welchen Gefühlen zu Guttenberg zurücktrat, was Bettina Wulff während ihrer Zeit in Bellevue dachte, kann dazu deren Bücher lesen. Selbst persönlichste Wahrheiten liegen bald nach den Ereignissen in verschiedenen Versionen frei erhältlich vor. Die Fernsehkameras haben sie inszeniert, die Talkshows haben sie zerredet, der Buchmarkt hat sie banalsisiert. „Der Rücktritt“ ist sich dieser strukturellen Veränderung bewusst, er arbeitet mit dem Material, weicht aber nicht in die Kolportage aus. Auf dem schmalen Grat zwischen Schlüsselochjournalismus und Politainment finden Schadt und Fleischhauer trittsicher ihren Weg. Wer will, kann ihren Film als Medienschelte begreifen, wer es anders sehen möchte, schüttelt über den an sich selbst gescheiterten Bundespräsidenten den Kopf. Vor allem aber darf man Sat.1 zu diesem Film beglückwünschen. Kein anderer Sender hätte ihn so (gut) machen können. (Text-Stand: 29.1.2014)