Der Brief kommt aus dem Gefängnis, und die darin formulierte Bitte ist eine Provokation. Der verurteilte Straftäter Jan-Josef Geissler möchte den bischöflichen Segen für seinen Plan, Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden. Ein Frauenmörder, der das Wort Gottes predigt? Die Presse hat eine Kopie des Bittschreibens erhalten, die Frage ist also in der Welt und muss so oder so beantwortet werden. „Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir!“, stöhnt der Bischof und duckt sich. Er schickt seinen persönlichen Referenten Remberg zu dem geläuterten Verbrecher, damit der die „Haltung der Kirche“ erarbeitet. Remberg ist aber in keiner guten emotionalen Verfassung, er hat gerade erst seinen Vater zu Grabe getragen. Noch im Beerdigungsanzug fährt Remberg los, am gleichen Abend noch will er zurück in seinem eigenen Leben sein, das kaum existiert, so sehr ist es von seiner Pflichterfüllung bestimmt.
Natürlich wird Rembergs Reise in die Haftanstalt zu einer inneren Reise in seine Schlipsträger-Seele. Devid Striesow spielt ihn unübersehbar als einen Mann, der nicht nur im falschen Anzug, sondern auch im falschen Leben steckt. Thomas Berger, Regisseur und Autor von „Der Prediger“, hat den Filmplot zudem ziemlich genretreu gebaut. Schon in der Exposition denkt man unwillkürlich an amerikanische Hochspannungsfilme wie „Dead Man Walking“ (USA 1995) oder an „Primal Fear“ (dt. „Zwielicht“, USA 1996), in denen die Frage nach Schuld und Vergebung von moralischen Instanzen – einer Nonne oder einem Strafverteidiger – gestellt und mit für den Zuschauer ungewissem Ausgang erörtert werden.
Das also ist Bergers Unterhaltungsversprechen für die ARD-Zuschauer. Dass „Der Prediger“ dieses Versprechen sogar über weite Strecken einlösen kann, ist vor allem Lars Eidinger zu verdanken, den Berger so undurchschaubar diabolisch inszeniert, dass man seiner Figur den genialen Bluff genauso abnimmt wie die christliche Läuterung. In seinen besten Momenten ist der Film von den geschliffenen Dialogen getragen, in denen Eidinger und Striesow im kargen Ambiente einer Gefängniskirche über die Herausforderung der christlicher Vergebung sprechen. In diesen Momenten ist „Der Prediger“ so spannend wie ein Schachspiel. Man muss mitdenken, um Gefallen am Spiel zu finden: Der Staat richtet und verhängt Strafen, die man verbüßen muss. Die Bibel lehrt dagegen Vergebung – vorausgesetzt der Sünder bereut seine Tat. Welches „Strafmaß“ soll die Kirche für Geissler nun gelten lassen? „Würden Sie mir vergeben können, wenn ich Ihre Tochter getötet hätte? Wären Sie in der Lage, mir eine solche Schuld zu vergeben?“, fragt der Frauenmörder Geissler den gläubigen Christen Remberg. Und der fragt einen Tick zu schnell zurück: „Haben Sie sich denn schuldig gemacht?“ Lange wird Remberg der Antwort auf die ihm gestellte Fragen ausweichen, indem er seiner eigenen Frage nachgeht: Ist Geissler wohlmöglich zu Unrecht verurteilt, also gar nicht schuldig?
Wie ein Detektiv, der einen Justizirrtum aufdeckt, recherchiert Remberg nun in der Umgebung des Verbrechens. Geht zu den Eltern des Opfers, zum Vater des Täters. Spricht mit dem Gefängnispfarrer, mit Geisslers Anwalt und seinen Mitgefangenen. Stück für Stück nährt der Autor Berger so den Verdacht, hier brauche es keine Vergebung, sondern die Revision eines Justizirrtums. Und der Regisseur Berger verkauft den „Prediger“ in dieser Phase ein wenig an das „einfachere“ Genre des Ermittlerkrimis. Mitdenken nun zwecklos, denn der Film ist jetzt ohnehin immer ein wenig schlauer als der Zuschauer, der immerhin das jederzeit spüren kann.
In seiner Inszenierung hat Thomas Berger die Verwirrung der Gefühle und die Erschütterung der moralischen Standpunkte im besten Sinne in überschaubaren Grenzen gehalten; zur besseren Einordnung ist die Szenerie in Farbwelten eingeteilt: graublau für das Gefängnis und das Bischofsamt, ockergelb für den Pietismus und die schlichte Gottesfurcht. Mit weiten Kranbildern fährt die Kamera von Gunnar Fuß immer wieder die verschiedenen Planquadrate dieses Schachspiels ab; wo immer es geht, dominieren vertikale oder horizontale Linien seine Filmbilder. In dieser Umgebung, die Berechenbarkeit suggeriert, bleibt der Mensch umso mehr das unergründliche Wesen. Viele hervorragende Schauspieler tun das ihre dazu, diesen Eindruck wach zu halten: Götz Schubert ist der unkonventionelle, aber extrem glaubensfeste Gefängnispfarrer, Susanne Wolff Rembergs Fleisch gewordene Versuchung, Michael Tregor das verlorene, in den Arsch gefickte Schaf der Gefängnisherde. Mittendrin in diesen an Gesten reichen Szenen muss Striesow die leiseste aller Figuren zum Klingen bringen. Er tut das allein mit seiner präzise eingesetzten Mimik. Mal zerknirscht, mal selbstgewiss, mal voller Hoffnung, endlich alles verstanden zu haben, lässt er seine Figur kunstvoll zu sich selbst und in ein Finale finden, das auf die Frage vom Anfang doch noch einmal zurück kommen muss.