Eigentlich gehört Martin Manz (Albrecht Schuch) zu den Guten. Der Dorfpolizist ist ehrenamtlicher Vorsitzender im Handballverein, umsorgt aufmerksam seinen senilen Vater (Friedrich von Thun), ist seiner hochschwangeren zweiten Frau Anja (Aylin Tezel) ein liebender, aufmerksamer Ehemann und auch Tobi (Florian Burgkart), sein Sohn aus erster Ehe, weiß, dass er sich auf seinen Vater verlassen kann. Ganz besonders intensiv kümmert er sich um seinen besten Freund Frank (Johannes Allmayer), dessen Leben nach dem Unfall seiner Teenagertochter Miriam (Lilli Biedermann) völlig aus dem Ruder läuft. Das hat einen guten Grund. Martin hat ein schlechtes Gewissen, denn der Pkw, nach dem er und sein junger Kollege (Lukas Hupfeld) fahnden, ist sein eigener und er hat ihn in jener unglückseligen Nacht gefahren. Auf einem Waldweg hat der sogar möglicherweise angetrunkene Polizist das Mädchen überfahren. Er habe es im Dunkeln zu spät gesehen, beichtet er dem Arzt Dr. Walter Nachtheim (Günther Maria Halmer), der ihm auf die Schliche gekommen ist. Der dorfbekannte Alkoholiker setzt Martin unter Druck. Einerseits möchte er ihn zu einem moralischen Handeln verpflichten – und das mit einer gewissen Genugtuung, wurde er doch von dem jungen Dorfsheriff wegen seiner Trunksucht in der Vergangenheit nie geschont. Andererseits locken ihn auch die 30.000 Euro, die Martin ihm für sein Schweigen anbietet. Nähme er das Geld, könnte (fast) jeder im Dorf „glücklich“ und sorgenfrei weiterleben. Martin versichert ihm, dass es ihm leidtue und er anderweitig um Wiedergutmachung bemüht sei.
„In einer Zeit des schnellen Wandels scheint es, dass unsere gesellschaftlichen, aber auch unsere individuellen moralischen Evaluierungsmechanismen diffus werden … Heute propagieren immer öfter Menschen eine subjektive Wahrheit, die losgelöst von allgemeingültigen ethischen Werten ist, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Dieses ‚Wer sich selber glaubt, hat immer recht‘ ist eine der Grundlagen des Films.“ (Gabriela Sperl, Sophie von Uslar, Produzentinnen)
Der ZDF-Fernsehfilm „Der Polizist und das Mädchen“ erzählt eine Krimi-Situation als moralisches Drama. So wird beispielsweise der Unfall mit Fahrerflucht nicht gezeigt; umso detaillierter wird der Zuschauer Zeuge der anschließenden Vertuschungsaktion. Die Hauptfigur hat als Polizist leichtes Spiel – und so lässt sie das einzige Beweismittel verschwinden, manipuliert, wo es nur geht, und macht freundliche Miene zum bösen Spiel. Dennoch manövriert sich jener Martin Manz in ein Dilemma, aus dem es keinen guten Ausweg zu geben scheint. „Alles Handeln der Hauptfigur führt letzten Endes nur zu noch mehr Problemen“, so (Nachwuchs-)Autor Frédéric Hambalek. „Martin kann nur zwischen schlechten und noch schlechteren Optionen wählen.“ Es ist eine ebenso existentielle wie für den Zuschauer spannende Ausnahmesituation, die sich Hambalek ausgedacht hat. Das Skript ist während eines Stipendiums an der Drehbuchwerkstatt München entstanden, es wurde 2017 mit dem Tankred-Dorst-Preis ausgezeichnet und anschließend im Auftrag des ZDF vom renommierten Regisseur Rainer Kaufmann verfilmt (2005 setzte er schon einmal ein Skript aus der Münchner Drehbuchwerkstatt sehr erfolgreich um: „Marias letzte Reise“ von Ariela Bogenberger). Die Geschichte besticht durch die Konzentration auf dieses eine Dilemma, das weitere Kreise zieht (so entgeht beispielsweise der Ehefrau nicht, dass hier etwas nicht stimmt), und durch die Reduktion auf einen überschaubaren Mikrokosmos, ein bayerisches Dorf, in dem sich jeder kennt und freundlich tut. Nur einer, der Vater des komatösen Mädchens, tanzt aus der Reihe, legt sich sogar mit dem besten Freund an, weil er zu lasch in der Sache ermittele und weil er sich von ihm bevormundet sieht. Das Opfer also wird nach und nach an den Rand gedrängt, während der Täter unbehelligt bleibt. „Alle sehen ihm zu, und keiner sieht die Wahrheit“, so Kaufmann. „Weil man sie manchmal auch nicht sehen will? Weil auch andere sich genauso verzweifelt an den gleichen Traum vom Glück klammern?“
„Die Aufgabe, aber auch die besondere Herausforderung für mich als Regisseur bestand darin, einen empathischen Blick auf den Polizisten zuzulassen, und uns alle beim Zusehen so zu verstricken, dass diese Empathie aufrechterhalten bleibt, obwohl er Täter ist.“ (Rainer Kaufmann, Regisseur)
Wenn der schuldige Polizist in der leeren Wirtsstube sitzt und in sein Bier stiert, scheint er zumindest der zweit Einsamste und zweit Unglücklichste Mensch im Dorf zu sein. Anschließend schreibt er konsequenterweise einen langen Brief an seinen noch verzweifelteren Freund. Die Frage ist: Wird er ihn irgendwann abschicken oder wird er sich besänftigen lassen von seiner Frau? Wird er wohl ihren Worten mehr Glauben schenken als seinen Selbstzweifeln? Wenn einem die Frau sagt „Du tust doch schon alles, was du kannst, … du bist so tapfer … ich liebe dich“ – soll man dieses Glück zerstören? Soll man auch sie in ein tiefes Loch reißen? Die große Stärke von „Der Polizist und das Mädchen“ ist die Erzählperspektive – sprich: die Art und Weise, wie der Zuschauer an die Geschichte und ihre Hauptfigur emotional gebunden wird. „Der Film hält den Zuschauer dazu an, sich sein eigenes Urteil über den Umgang mit der Schuld des Hauptcharakters zu bilden“, sagt Hauptdarsteller Albrecht Schuch, der in diesen Tagen auch in „Kruso“ zu sehen ist. Theoretisch mag das so sein, in der Praxis allerdings bleibt dem Zuschauer keine andere Wahl, als sich auf die Seite des „Helden“ zu schlagen. Zu sehr dominiert dieser die Handlung, zu sehr werden wir Zeuge seiner Verunsicherung, seiner Angst, zu nahe kommt er uns und zu überzeugend spielt ihn Schuch; und darüber hinaus werden wir Mitwisser und wir genießen diese Komplizenschaft. Der Antagonist, in diesem Fall das Opfer, ist weniger präsent, und obwohl er von den Außenstehenden, auch dem Zuschauer, mehr Mitleid verdient hätte, isoliert er sich mit seinem aggressiven Verhalten, nicht nur bei den Bewohnern im Dorf. Aus dieser Rezeptionssituation lassen sich interessante Schlüsse ziehen: Wenn man schon einem anderen sein unmoralisches Handeln verzeiht, weil er einen anrührt und weil er einem sympathisch ist, wie sehr würde man dann wohl erst recht eine solche kriminelle Wahrheit schönreden, wenn man selbst der Schuldige und in ein solches Dilemma verwickelt wäre. Die Frage nach dem erhofften Glück, dem lebensweltlichen, aber auch dem Happy End im Film, muss sich der Zuschauer also ebenso stellen wie die Hauptfigur. Und auch die Allmacht des Bildes und der Geschichte führt einem dieser vermeintlich so kleine Film vor Augen: Er zeigt die Macht der Dramaturgie & des Gefühls, und er zeigt ihren Sieg über die Moral, die Fakten und den Verstand. (Text-Stand: 28.8.2018)