Der Abspann verweist auf die skandinavische Serie „Die Brücke – Transit in den Tod“, aber die Parallelen beschränken sich auf die Grundzüge der Handlung. Die achtteilige Sky-Serie „Der Pass“ erzählt von mehreren Morden, die sich im Großraum Bayern/Salzburger Land ereignen und dieselbe Handschrift tragen. Der Täter will Zeichen setzen und versteht seine Untaten als Werk, das wie ein Weckruf wirken soll. Zu den Opfern zählen unter anderem ein bulgarischer Schlepper, der den Tod vieler in einem Lastwagen eingesperrter Flüchtlinge zu verantworten hat, der Manager einer Stiftung, der in großem Stil betrogen hat, und ein vor sich hin plapperndes YouTube-Sternchen. Die Mordserie erinnert in der Tat an die Motive des „Wahrheitsterroristen“ aus der dänisch-schwedisch-deutschen Koproduktion. Der Auftakt ist ebenfalls ähnlich: Der erste Leichnam lag in der Mitte der Öresundbrücke und somit exakt auf der Grenze zwischen Dänemark und Schweden. So beginnt auch „Der Pass“: Die Körper des Bulgaren wird auf einem verschneiten Alpenpass gefunden; der Mörder hat ihn auf dem Grenzstein deponiert. Weil auch die weiteren Todesfälle jeweils deutsch-österreichische Bezüge haben, gründen die Polizeibehörden beider Länder eine gemeinsame Ermittlungs-Kommission, die von der jungen Traunsteiner Kommissarin Ellie Stocker (Julia Jentsch) geleitet wird. Ihr Pendant auf Salzburger Seite ist Gedeon Winter (Nicholas Ofczarek); und diese Kombination ist für die Handlung ähnlich fruchtbar wie die Mördersuche.
Foto: Sky, ZDF
Die kreativen Köpfe hinter der Serie sind Cyril Boss & Philipp Stennert. Die beiden haben als Autoren und Regisseure nach den vergnüglichen Kinoparodien „Neues vom Wixxer“ (2007, nur Regie) und „Jerry Cotton“ (2010) sowie dem Kinderspuk „Das Haus der Krokodile“ (2012) mit den ersten „Neben der Spur“-Episoden „Adrenalin“ und „Amnesie“ (2015/2016) die Maßstäbe für die ZDF-Reihe gesetzt. Im Unterschied zu den Primetime-Produktionen für die großen Programme scheinen Autoren und Regisseure bei Serien für Pay-TV-Sender und Streaming-Plattformen alle Zeit der Welt zu haben, um ihre Geschichten zu erzählen, und das nutzen Boss und Stennert weidlich aus. Deshalb gibt es in den ersten Folgen einige Nebenschauplätze und Randfiguren, die mit der Handlung zunächst überhaupt nichts zu tun haben; das Personal greift erst viel später entscheidend in die Geschichte ein. Anders als die deutschen Streaming-Serien „Dark“, „Dogs of Berlin“ (beide Netflix) oder „Beat“ (Amazon) verzichtet „Der Pass“ jedoch auf selbstzweckhafte Sequenzen, die dort mitunter wirkten, als seien den Machern die Möglichkeiten zu Kopf gestiegen. Zwar erfreuen auch Boss & Stennert mit einigen Einstellungen im „Twin Peaks“-Stil, die sie anderswo womöglich hätten opfern müssen, aber diese Bilder sind für die Atmosphäre des Films wichtig. Das gilt auch für die Musik von Jacob Shea, selbst wenn sie im Zusammenspiel mit dem Sounddesign oft wie ein Klangteppich klingt. In einigen Folgen führt der Amerikaner aus der Schule von Hans Zimmer (der deutsche Star-Komponist hat die Musik auch produziert) jedoch exemplarisch vor Ohren, welch’ enormen Einfluss die Tonspur auf die Qualität eines Films oder einer Serie haben kann. Streckenweise mutet „Der Pass“ wie ein Horrorfilm ohne Horror an: Das Geschehen wirkt harmlos, aber die Musik verkündet nahendes Unheil. Ganz entscheidend ist Sheas Anteil in jenen Sequenzen, in denen Boss und Stennert die Spannung mit Parallelmontagen auf die Spitze treiben: Während die Polizei überzeugt ist, dem Mörder eine perfekte Falle gestellt zu haben, schaut der sich in aller Ruhe im Haus der Kommissarin um und sorgt dank seiner technischen Fertigkeiten dafür, dass er sie fortan permanent lückenlos überwachen kann.
Soundtrack: Ambros & Tauchen & Prokopetz („Die Finsternis“), Kreiml & Samurai („Lächerlich“), Wolfgang Ambros („De Kinettn wo i schlof“), Dreiviertelblut („Ned nur MIA“), Yukno („Blut“), Delegation („You And I“)
Foto: Sky, ZDF
Neben der Musik, den teilweise raffinierten Szenenwechseln, dem vorzüglichen Schnitt und der herausragenden Kameraarbeit von Philip Peschlow, der einige grausig schöne Bilder gestaltet hat, lebt gerade eine fortlaufend erzählte Serie von den Figuren und ihren Darstellern. Sie sind es, die jenen suchtähnlichen Sogeffekt entsteht lassen, der garantieren soll, dass sich die Zuschauer ganze Nächte um die Ohren schlagen, weil sie wissen wollen, wie’s weitergeht. Im Unterschied zu anderen Produktionen dieser Art, die oft wie ein viele Stunden langer Spielfilm mit episodischen Cliffhangern konzipiert sind, haben Boss & Stennert (teilweise von Mike Majzen unterstützt) die acht Folgen allerdings mit jeweils eigener Binnen-Dramaturgie versehen. Für den seriellen Faktor sorgt neben der Suche nach dem Täter die Beziehung zwischen dem Ermittlerduo. Auf den ersten Blick entsprechen die beiden typischen Klischees: hier die ehrgeizige Deutsche, dort der ausgebrannte Österreicher, dem Kontakte zum organisierten Verbrechen nachgesagt werden. Dass Ellie Stocker eine Affäre mit ihrem verheirateten Chef (Hanno Koffler) beginnt, passt ebenfalls ins Bild. Entscheidend ist, wie Julia Jentsch und Nicholas Ofczarek diese beiden Figuren mit Leben füllen. Er hat dabei die darstellerisch attraktivere Rolle, denn kaputte Typen sind immer interessanter; und Gedeon Winter ist richtig kaputt. Sein Anzug sieht aus, als würde er darin schlafen, die strähnigen Haare sind fettig, der Mehrtagebart lässt ihn ungepflegt wirken; koksen tut er auch. Mit seiner seltsamen Unfrisur und dem stieren Blick wirkt der aus Wien nach Salzburg versetzte Winter, der anfangs alles tut, um den Fall der deutschen Kollegin zu überlassen, mitunter wie ein Untoter; auch deshalb erinnert Ofczarek an die Titelfigur aus dem Stummfilmklassiker „Der Golem“. Kein Wunder, dass Stocker, die gern eine persönliche Beziehung aufbauen möchte, an Winters Sturheit förmlich abprallt. Deutsche Sender trauen sich nur äußerst selten, das Publikum mit Polizisten zu konfrontieren, die derart fertig mit der Welt und sich selbst sind. Zuletzt gab es vergleichbar verkrachte Existenzen in zwei Filmen von Lars Becker, „Unter Feinden“ und „Zum Sterben zu früh“; den einen spielte Fritz Karl, den anderen – Ofczarek.
Foto: Sky, ZDF
Die weiteren Rollen sind zwar weniger markant besetzt, aber ähnlich treffend. Das gilt vor allem für Franz Hartwig, der den Mörder mit einer irritierenden Mischung aus Unscheinbarkeit und Charisma versieht: Im Alltag ist Gregor Ansbach ein Mann, den man sofort wieder vergisst, aber als Verbrecher entwickelt er eine fatale Vorliebe für „Kontrolle, Macht und Zerstörung“, wie ein Fallanalytiker feststellt. Für Martin Feifel, der in seiner Laufbahn schon viele irrlichternde Charaktere gespielt hat, ist diese mit leiser Stimme und zurückhaltendem Auftritt glaubwürdig verkörperte Figur eher ungewöhnlich. Da Ansbach ein Narzisst ist, kommt auch der Rolle von Lucas Gregorowicz als Charles Turec, Reporter einer Münchener Tageszeitung, eine besondere Bedeutung zu: Der Mörder schickt ihm regelmäßig Audioaufzeichnungen mit den Geständnissen seiner Opfer. Turec ist es auch, der ihm seinen Namen gegeben hat: Eine Mitarbeiterin des Stiftungsmanagers hat die Ermordung ihres Chefs mit angesehen und nur durch Zufall überlebt. Ihre Beschreibung des maskierten Täters passt auf eine Sagenfigur, die im Alpenraum den Nikolaus begleitet und bei den Kindern Angst und Schrecken verbreitet; deshalb heißt der Mörder nun der „Krampuskiller“. Weil Ansbach wie alle Narzissten auf Kritik äußerst allergisch reagiert, landet auch ein ehrgeiziger junger Rechtspopulist (Christopher Schärf) auf seiner Todesliste; der Mann hat ihn in einem TV-Interview als Psychopathen bezeichnet. Später begeht Stocker den gleichen Fehler und nennt Ansbach nach dessen Terroranschlag auf ein Einkaufszentrum einen „bösartigen Feigling“. Er rächt sich auf perfide Weise, was zur Folge hat, dass plötzlich nicht mehr die Deutsche, sondern der heruntergekommene Österreicher zur treibenden Kraft der Ermittlungen wird.
Eine weitere wichtige Figur ist ein Sektenführer (Lukas Miko), dessen Blog mit Warnungen vor dem nahenden Untergang der Zivilisation Ansbach als Inspiration dient. Dieser Brunner, ähnlich veranlagt wie Ansbach, gilt zunächst als Verdächtiger, bis den Ermittlern klar wird, dass dem Mann sein Hofstaat genügt, um seine Neigungen zu befriedigen. Um einer Haftstrafe zu entgehen, lässt er sich auf einen Deal ein und beginnt eine Chat-Unterhaltung mit Ansbach. Der Schriftwechsel zieht sich hin, weil jede Antwort wohlüberlegt sein will. Solche Echtzeitszenen gibt es mehrfach; das hätten Boss und Stennert für einen frei empfangbaren Sender garantiert nicht auf diese Weise inszenieren dürfen. Das Stilmittel des Perspektiv-Wechsels, wenn wichtige Ereignisse erst aus Stockers, dann aus Winters Sicht gezeigt werden, ist naturgemäß deutlich reizvoller. Ohnehin liegt gerade auch in der stilistischen Variabilität eine große Qualität der Serie; Folge fünf zum Beispiel (mit Harald Schrott als Episoden-Hauptdarsteller) erzählt einen eigenen Subplot, der zu großen Teilen aus Rückblenden besteht. In Folge sieben endet die Geschichte: Nicht die Polizei, sondern ein absurder Zufall sorgt dafür, dass der „Krampuskiller“ von der Bildfläche verschwindet. Der Schluss dieser Episode liefert eigentlich die perfekte Vorlage für eine Fortsetzung, aber stattdessen nutzen Boss und Stennert Folge acht als Epilog, der von einer gruseligen Romanze erzählt.