Ein Junge mit Kaspar-Hauser-Syndrom schwebt (nicht allein) in Lebensgefahr
Ein Engpass im Fachdezernat beschert Polizeioberkommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger) einen ungewöhnlich anspruchsvollen Fall. Ein verwahrloster, verhaltensgestörter Junge (Dennis Doms) ist an der Isar aufgegriffen worden. Obwohl er mindestens 14 Jahre alt sein muss, spricht er wenig und unverständlich, er malt wie ein Zweijähriger und nachts hat er Alpträume. Der Körper des Jungen, der sich Polou nennt, ist von Narben überzogen, die Wunden und die Hornhaut am Gesäß deuten auf die Hölle auf Erden hin. Für Bessie und ihre Kollegen, ihren Halbbruder Cem Halac (Cem Lukas Yeginer) und Wolfgang Maurer (Andreas Bittl), bedeutet das einen Einsatz rund um die Uhr. Polou ist in einer gesperrten Station eines Krankenhauses untergebracht. Sein Kontakt wird auf die Polizistin, eine Krankenschwester (Xenia Tiling) und Dr. Kutay (Katja Bürkle), eine Expertin für die Behandlung traumatisierter Kinder, beschränkt. Ab und an schauen auch Eyckhoffs Chef (Norman Hacker) und eine Frau vom Jugendamt (Anja Schiffel) vorbei. Spätestens als sich eine seltsame Frau (Lucy Wirth) in die Klinik einschleicht und versucht, den Jungen zu töten, bekommt der Fall eine neue Dimension. Offenbar hält Polous Peiniger noch weitere Kinder gefangen. Weil die Kinderpsychiaterin mit Reden und Malen nicht weiterkommt, versucht sie es mit einer ungewöhnlichen Form der Doppelhypnose. Die engagierte Polizistin wird mithypnotisiert, damit sie den verängstigten Jungen im Trancezustand schützen kann.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Weniger hierarchisch ermitteln: Kommunikation ist alles, Hypnose könnte helfen
Aus einem Patienten wird ein Zeuge. Das Kindeswohl, das lange Zeit Vorrang hat, tritt in Konkurrenz mit anderen Entscheidungskriterien, spätestens als es den ersten Toten gibt. Jetzt kann sich Eyckhoffs Chef nicht länger zurückhalten und drängt die junge Kollegin zum Handeln. Abwägungs-Fragen spielen eine zentrale Rolle in dem „Polizeiruf 110 – Der Ort, von dem die Wolken kommen“, dem Einstand von Verena Altenberger als Nachfolgerin von Matthias Brandt. Das entspricht dem Aspekt des Konzepts des neuen Reihenablegers, die Interaktionen „weniger hierarchisch“ anzulegen. Der Kommissar/die Kommissarin werde es nicht gewohnheitsmäßig richten, so Redakteurin Cornelia Ackers. Außerdem ist Eyckhoff „nur“ Streifenpolizistin. Also wird sie in Situationen geraten, in denen andere, Institutionen, Experten, Vorgesetzte, ihre Meinungen einbringen und die zu übergehen, sich in TV-Krimis allenfalls erfahrene Hauptkommissare erlauben können. Im Fall des geistig und körperlich zurückgebliebenen Polou ist die Heldin hin- und hergerissen. Erst gerät sie ob der Entscheidung Hypnose – ja oder nein in einen Disput mit der Frau vom Jugendamt. Später, nach der ersten Hypnose-Sitzung, wachsen ihre Bedenken. Die Gegenpositionen vertreten jetzt der Kommissar und die Psychiaterin. Mehr Teamarbeit, das ist einerseits die Reaktion auf eigenwillige Charaktere, wie sie Brandt und Selge in der BR-Reihe verkörperten. Eyckhoff ist keine einsame Wölfin, die wortkarg in dunklen Stimmungen badet, auch wenn die Trance bei ihr üble Kindheits-Erinnerungen zutage fördert. Diese Ermittlerin ist jung, sie wird Fehler, aber vor allem Erfahrungen machen dürfen. Andererseits könnte das Kooperieren, auf das ein „Streifenhörnchen“ wie sie angewiesen ist, die klischeehaften Darstellungen von Kompetenz-Gerangel und hierarchischen Ritualen, wie sie im Krimi hierzulande üblich sind, aufbrechen.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Ungewöhnliche Heldin für einen Krimi: locker, frisch, witzig & sehr ernsthaft
War nach Matthias Brandts Abgang Wehmut, nach der knalligen Parole der Redakteurin „jünger, offener, weiblicher“ und nach der Bekanntgabe der Hauptdarstellerin eine gewisse Skepsis angesagt, die allerdings gespannter Neugier wich, da Verena Altenberger eben nicht nur leichte Komödie („Magda macht das schon“), sondern auch preisgekröntes Drama („Die beste aller Welten“) kann, so ist nun die Begeisterung umso größer. Die Hauptfigur wirkt locker, frisch und zugleich sehr ernsthaft. Sie agiert unaufgeregt, sie steht mitten im Leben und es scheint, als ob sie sich dabei nicht wie ihre Vorgänger im Weg stehen würde. Außerdem besitzt diese Frau einen wunderbar schrägen Humor. Wem schießen schon während einer Hypnose völlig absurde Dinge durch den Kopf („Wir haben in der Schweiz Käse mit so großen runden Löchern, dass man in die kacken kann“) oder wer berichtet während der Arbeit einer Kollegin – obgleich sie Psychiaterin ist – von einem Kindheitserlebnis wie dem vom Polizisten, der in seine Dienstmütze onaniert hat („Ich habe gedacht, dass alle Polizisten das machen, damit die Mütze besser am Kopf haftet“). Ackers, die die Konzepte des Bayern-„Polizeirufs“ aktiv mitentwickelt, hatte populäre Frauenbilder im Kopf, um eine Phantasie von dieser Streifenpolizistin im höheren Dienst zu bekommen: Amy Winehouse, Charlotte Gainsbourg, Sophie Rois. Es soll eine Frau sein, die leidenschaftlich ist, aber nicht vorrangig beziehungsfixiert, „die lieber mit dem Pförtner Karten spielt, als der eigenen Karriere hinterher zu hecheln, und die wild wird bei Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit“. Da passt es ins Bild, dass sich Bessie mit einer Kopfnuss von ihrem Chef verabschiedet. Damit ist auch dessen Frage beantwortet, weshalb sie trotz guter Arbeit bislang nie befördert wurde.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Altenberger hat’s! Wer sie mit Brandt und Selge vergleicht ist selber schuld…
Verena Altenberger, die in dem Ausnahmedrama „Rufmord“ (2018) schon mal ihre Polizistenrolle üben durfte und deren psychopathische Performance in David Schalkos Atmosphäre-starker Thriller-Serie „M – Eine Stadt sucht eine Mörder“ (2018) in Erinnerung bleiben wird, spielt ihre Rolle äußerst charmant, nicht nur ihres feinen österreichischen Dialekts wegen. Auch im „Polizeiruf“ ist sie eine Österreicherin in München. In ihrer Rolle besitzt sie ein einnehmendes Wesen, eine angenehm zugewandte Art. Entscheiden im wirklichen Leben oft nur (Bruchteile von) Sekunden über Sympathie/Antipathie dürfte es beim weniger direkten, auf zwei Sinne beschränkten Medium Film etwas länger dauern, bis der Zuschauer seine Entscheidung trifft. Die fällt im Falle Altenberger umso deutlicher aus: Diese Schauspielerin hat’s! Sie ist die schönste Kommissarin im deutschen Fernsehen, die keine Kommissarin ist. Noch schöner allerdings, dass ihre Attraktivität nicht für den Zuschauer ausgestellt wird und dass diese in der Geschichte nur versteckt thematisiert wird. So versucht ihr Chef immer wieder Sympathiepunkte bei ihr zu sammeln, obwohl doch eigentlich sie Fleißkärtchen für die Beförderung sammeln müsste. Karriere aber hat sie noch nie interessiert. Auch diese latente Souveränität, diese Selbstverständlichkeit, mit der diese Frau ihren Job macht, das spielt Altenberger mit einer ebenso großen Selbstverständlichkeit.
Die Trance forciert die Lösung des Falls und bringt einem auch die Heldin näher
Auch wenn einige Zuschauer auf der Zielgeraden einen irritierenden Moment verspüren könnten, bei dem sie sich möglicherweise von der narrativen Konstruktion überfordert und an der Nase herumgeführt fühlen, so eignet sich die Hypnose/Trance doch vorzüglich als narrative Methode, um sowohl dem Kriminalfall als auch der Psyche der Hauptfigur ein Stück weit auf die Spur zu kommen. Dabei ist besonders reizvoll, dass die Informationen auf eine sehr sinnlich-assoziative Art und Weise vermittelt werden; der Zuschauer taucht mit der Heldin quasi in den Fluss ihres Unterbewusstseins ein. Das ist auch filmisch von Regisseur Florian Schwarz flüssig erzählt und aufregend umgesetzt. Es sieht also alles nach einem Einstand nach Maß aus. Da ist es schon einigermaßen verwunderlich, dass der verdiente Drehbuchautor Günter Schütter („Tatort – Frau Bu lacht“ / „Polizeiruf 110 – Der scharlachrote Engel“) am Ende seinen Namen zurückgezogen hat (und bei den Credits als Thomas Korte ausgewiesen wird). Der nicht minder versierte Michael Proehl, der mit Schwarz schon so manches Meisterstück auf die Beine stellte (beispielsweise die „Tatort“-Episoden „Weil sie böse sind“ und „Im Schmerz geboren“ oder „Das weiße Kaninchen“) kam offensichtlich erst später zum Projekt hinzu. Ob Schütter am Ende von seiner Fassung zu wenig im Drehbuch wiederfand? – für den Kritiker jedenfalls wirkt „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ wie aus einem Guss. Es ist ein Einstand, der Lust auf mehr macht. (Text-Stand: 17.8.2019)