Jakob Franck (Thomas Thieme) kann es nicht lassen. Der pensionierte Kommissar überbringt noch immer Angehörigen von Toten die „traurige Nachricht“. Mit seiner Erfahrung und der Reife seiner Jahre macht er das besser als die jungen Ex-Kollegen, und als geschiedener, beziehungsloser Hausmann weiß er mit seiner Zeit nicht viel anzufangen. Außerdem sind es die Toten selbst, die ihn nicht loslassen. „Aus dieser Welt kehrt nie-mand unversehrt und traumlos zurück“, weiß der lebenskluge Mann. Jetzt kommt sogar ein alter Fall zu ihm zurück. Ludwig Winther (Devid Striesow) macht ihn mitverantwortlich für den Tod seiner Frau Doris (Ursina Lardi). Sie hat sich erhängt, zwei Jahre nach dem als Suizid zu den Akten gelegten Tod beider Tochter Esther (Stephanie Amarell). Franck fühlt sich herausgefordert, nimmt die Bedenken des psychisch labilen Mannes ernst, der glaubt, dass seine Tochter ermordet wurde. Der „Todesbote“ sieht sich in die Rolle des Ermittelnden gedrängt. Denn es war für ihn ein besonderer „Fall“. Noch nie hatte er seine Distanz als Amtsperson so deutlich aufgegeben wie vor zwei Jahren, als er der Mutter der Toten beim Überbringen der Nachricht sieben Stunden lang in stiller Umarmung beigestanden hat. Und auch zur Beerdigung ist er gekommen. Jetzt will er herausfinden, was damals zwischenmenschlich geschah. Francks Intuition sagt ihm, „jemand hat Esther im Stich gelassen, als sie in Not war“.
Ein (privater) Kriminaler, zwei Tote, einige Verdächtige – „Der namenlose Tag“ bringt alles mit, was den Film zu einem Krimi machen könnte, in Wahrheit aber ist er mehr als das, jedenfalls erzählt er sehr viel mehr als die zahlreichen Fernsehableger dieses Genres. Die Ehre gebührt Friedrich Ani, der die Vorlage schrieb, einen wunderbar mäandernden Roman mit einer gleichermaßen beharrlichen wie einfühlsamen Hauptfigur, und vor allem Drehbuchautor und Regisseur Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel“), der sich in seinem 30. Spielfilm erstmals – zumindest dem Sujet nach – einem Krimi angenommen hat und der diesem Film einen konzentrierten und doch angenehm entspannten Erzählrhythmus gab. Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit fließen bruchlos, ohne jede Irritation, fast unmerklich ineinander. Dabei war sich der Oscar-Preisträger anfangs gar nicht so sicher, ob er das überhaupt könne, „einen Primetime-Krimi für ein breites Publikum“. Die Bedenken waren überflüssig. Mit seinem unverstellten Blick, scheinbar frei von dramaturgischen Zwängen, mit denen sich viel zu häufig TV-Routiniers an die Arbeit machen, gelingt es Schlöndorff jenseits aller Konventionen, den Betrachter mit dieser (auch filmästhetisch) klaren und behutsamen, menschlichen und erkenntnisreichen Filmerzählung zu verführen und immer mehr zu packen.
Schlöndorff über sein Bild- und Musikkonzept:
„Es sollte wirken wie ein Film aus der deutschen Stummfilmzeit, mit viel Stimmung, Hell-Dunkel-Kontrast, mit ‚Geistern’ und einer einfachen, klaren Kameraführung. Der Einsatz der Musik geht auch in diese Richtung: einfach und klar, keine Spannungsmusik, eher Lyrisches, immerhin von Hans-Werner Henze und Max Richter. Es sind Musikstücke, die zum Teil für frühere Filme von mir komponiert wurden und die hier als Zitate Auferstehung feiern.“
Souverän bewegt sich der Autor-Regisseur in Raum und Zeit. Ganz so wie der Held der Geschichte: Jener Jakob Franck scheint in „Der namenlose Tag“ ohnehin das Maß aller Dinge zu sein. Schließlich ist er es, der den alten Fall als Privatermittler auf seine Art zum Leben erweckt, der einen anderen Befragungsstil pflegt als herkömmliche Profi-Ermittler und der mit seiner besonderen Methode der Introspektion, der sogenannten „Gedankenfühligkeit“, die näheren Umstände von Esthers Tod aufzuklären versucht. Und so liegt er nach einer Filmstunde in seinem Bett, der Blick Richtung Decke, wo er im Halbschlaf aus den Fetzen des Ermittelten (was bei ihm heißt: des Beobachteten) den Tathergang imaginiert. Bei dieser unorthodoxen Methode liegt es nahe, dass auch das erschütternde Ergebnis nichts mit den herkömmlichen Krimi-Auflösungen zu tun hat. Und so wird der Held auf seine alten Tage noch zu einem Moralisten, den zum ersten Mal die Geschichte hinter dem Fall, die menschliche Seite, mehr interessiert als die Aufklärung von Verbrechen oder das meist kurze Ritual des Beistands. Dieser Kommissar a.D. macht vor, wie Menschen miteinander umgehen sollten. Dabei deckt er das schmerzvolle, katastrophenschwere Schweigen (in) einer Familie auf: Er ermittelt Missverständnisse, Vorurteile, Beschuldigungen, er spürt reichlich Schuldgefühle auf, erkennt, wie tragisch alles miteinander verknüpft ist – und er stößt auf mögliche Wendepunkte, an denen die Geschichte eine andere Richtung hätte nehmen können. Auch wenn das alles von Schlöndorff erfreulicherweise nicht als lehrreiche Botschaft verpackt wird, so ist der Film ein stilles, unaufdringliches Plädoyer fürs Miteinanderreden, fürs Zuhören, für ein sachliches, maßvolles Abwägen der Fakten. Damit ist er freilich indirekt (und wahrscheinlich nicht unbedingt beabsichtigt) auch ein Kommentar zur Zeit.
„Ich war mir nicht sicher, ob genug Spannung für einen Film aufkommen würde, denn genau genommen ‚passiert’ ja nichts, kein Schusswechsel, keine Verfolgungsjagd oder Ähnliches.“ (Volker Schlöndorff, Buch & Regie)
Dramaturgisch und psychologisch ist die Geschichte ganz fein ziseliert. Narrative Bezüge verlaufen meist subkutan, die Beziehungen sind im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtig. Da irritiert das beiläufig verwendete Adjektiv „anschmiegsam“ des Vaters den aufmerksamen Zuhörer, ist dann aber rasch wieder vergessen, bevor es 30 Filmminuten später plötzlich um Missbrauchs-Vorwürfe geht. Oder da trifft der Privatermittler die Zwillingsschwester der Selbstmörderin, die stundenlang in seinen Armen lag, und aus dem Gespräch mit der unter starken Schuldgefühlen leidenden Frau wird natürlich sehr viel mehr als ein Informationsgespräch. Der Held macht sich ein Bild von dieser Frau und zugleich ist es die Begegnung mit einer Wiedergängerin, die emotional anders ist.
„Der namenlose Tag“ lässt unschwer erkennen, dass für den Regisseur Schlöndorff die Arbeit mit den Schauspielern seit jeher das Wichtigste ist. Thomas Thieme war früh im Gespräch für diese Rolle – und er ist eine Wucht, auch wenn er nicht wie in seinen Rollen als Choleriker, Familienpatriarch oder Kiez-König laut werden muss. Gerade aus dieser Diskrepanz zwischen Körperlichkeit und Fein- bzw. Mitgefühl erwächst eine besondere, weil erst einmal nicht zu erwartende Sensibilität. Seine Körpersprache gibt seiner Figur etwas Beharrliches und Bodenständiges: Unermüdlich und nie frustriert macht sich sein Ex-Polizist auf die Wahrheitssuche. Er ist alt, muss sich nichts mehr beweisen. Er macht es der Wahrheit – und ein Stück weit auch der Menschen wegen: Vielleicht verbirgt sich hinter diesem Stoiker doch auch ein kleiner Pädagoge. Vor allem aber ist Jakob Franck ein Mann, der kein klassisch glückliches Leben führt, aber in sich ruht: eine zutiefst integre Person. Den mental wie emotional absoluten Gegenpart verkörpert der von seinen Frauen verlassene Ludwig Winther, den Devid Striesow als Kleinbürger und hibbeliges Nervenbündel spielt. Wenn er und Franck aufeinandertreffen, liegt eine hochexplosive Spannung in der Luft. Auf eine Spannung latent erotischer Natur kam es Schlöndorff offensichtlich bei den nicht minder aufgeladenen Szenen zwischen Thieme und Ursina Lardi an. Dass einem als Zuschauer all diese intensiven Szenen in Erinnerung bleiben werden, wäre allerdings ohne diese Charaktere nicht möglich. Sie besitzen Tiefe, Charisma, Eigensinn. Die Schauspieler erwecken sie traumwandlerisch sicher zum Leben. Und am Ende (ent)steht ein kleines Meisterstück. (Text-Stand: 12.1.2018)