Stefan Kortmann war 1988 Mauerschütze an der innerdeutschen Grenze. Er wollte Medizin studieren. Also ging er das Wagnis ein. Und dann kam sie, die Situation, die er auf jeden Fall vermeiden wollte. Am Ende hieß es: Schießbefehl mit Todesfolge. 17 Jahre später ist Kortmann ein hoch engagierter Arzt, ein Arbeitstier, einer, der Leben retten will. Die Schuldgefühle, weil er einen Menschen getötet und einer schwangeren blutjungen Frau den Ehemann genommen hat, begleiten ihn noch immer. Als ein jugendlicher, todkranker Krebspatient ihm die Frage stellt, was er tun würde, wenn er nicht mehr lange zu leben hätte, bricht die Wunde wieder auf. Der Arzt will endlich reinen Tisch machen, sich zu seiner Schuld bekennen. „Was erwartest du eigentlich von ihr: Vergebung?“, fragt ihn seine Lebensgefährtin. Er möchte beichten, seine Schuld abtragen. Doch was tut er? Er verliebt sich in die Frau, deren Mann er erschossen hat. Und sie verliebt sich in ihn.
Zwischen 1991 und 2004 wurden 246 Personen, Soldaten wie Funktionäre, in 112 Verfahren, den sogenannten Mauerschützenprozessen, angeklagt. Die eine Hälfte wurde freigesprochen, die andere zu Freiheits- und Bewährungsstrafen verurteilt. Die Todesschützen kamen meist mit Bewährungsstrafen davon. Der Fernsehfilm „Der Mauerschütze“ versucht nicht, den Ereignissen an der deutsch-deutschen Grenze faktisch und grundsätzlich zu folgen oder den späteren politischen und juristischen Umgang mit den Mauerschützen aufzurollen und zu kommentieren. Produzent und Ko-Autor Hermann Kirchmann fragte sich: „Müsste man die Realität nicht besser mit einem Gegenentwurf konfrontieren?“ Also statt die Realität aufzuzeigen, was Dokumentationen oft besser können, den fiktionalen Möglichkeiten des Wirklichen nachzuspüren. Fakt ist: es gab kein Schuldbewusstsein bei den Mauerschützen. Verdrängung statt Verantwortung – so die Quintessenz der Prozesse. „Der Mauerschütze“ erzählt, was wäre, wenn die persönliche Moral obsiegen würde. Der Film zeigt, „wie schwer, aber auch befreiend und bereichernd es sein kann, zu seiner Verantwortung zu stehen“.
Fernsehfilme eigenen sich für kollektives Erinnern. Doch sie sind in der Regel umso besser, je kleiner und bescheidener sie ihre Geschichte anlegen. Der Film von Jan Ruzicka ist darin vorbildlich. Er zeigt ein Drama in Urform. „Ein schuldbeladener Held nähert sich einer dem Opfer nahe stehenden Person und versucht, sich von seiner Schuld zu befreien“, so der Regisseur. Und dann bekommt die Geschichte eine Wendung, die nach Melodram aussehen mag, die aber psychologisch nicht unplausibel erscheint. „Treibt ihn die Sehnsucht nach Absolution an? Gerät er in den Sog dieser Frau, weil er ihrer Anziehung erliegt? Oder weil er sühnen will?“ Hauptdarsteller Benno Fürmann ließ sich vor den Dreharbeiten von einer Psychoanalytikerin beim Rollenverständnis helfen. Ein kluger Drehbuch-Kniff ist, die junge Generation, einen dem Tod geweihten, der mit „diesen alten Geschichten“ nicht allzu viel anfangen kann, und die Tochter des Erschossenen in den Film hineinzuholen. So öffnet sich eine weitere Geschichte um Schuld und Aufrichtigkeit. Jugend begnügt sich nicht mit Lügen!
„Der Mauerschütze“ wirkt ein wenig wie eine Light-Version von Fäberböcks „Jenseits“ und Petzolds „Wolfsburg“. In dem Film über den „Geist“ der Autostadt hatte Fürmann einen ähnlichen inneren Konflikt äußerlich auszutragen. Seine Figur fährt ein Kind zu Tode und sucht anschließend die Nähe der Mutter, er rettet sie und schläft mit ihr. Schwermut liegt auf Fürmanns Rolle in „Der Mauerschütze“. Aber sein Handeln nimmt ihm eine Last von der Seele, so wie auch der von Annika Kuhl nuancenreich gespielten Fischerin das Schuldgefühl ihrer Tochter gegenüber genommen wird. So durchschaubar die Konstruktion der Story mit ihren Projektionen und ihren Liebesgeschichten zu Beginn auch sein mag, dieser Film mit seiner klugen Rückblenden-Ökonomie und dem hoch suggestiven Sounddesign stimmt, weil er in den emotionalen Details genau ist und weil er ein realistisches und kein Genre-Ende sucht. Da sollte dann auch ein bisschen Melodram erlaubt sein. (Text-Stand: 29.6.2011)