„Wir machen uns ein falsches Bild von Moskau, wenn wir es allein von den ‚Tagesthemen‘ ableiten“, sagt Adolf Winkelmann. Der Dortmunder Filmemacher muss es wissen – drehte er doch für seinen TV-Thriller „Der letzte Kurier“ in und um Moskau zwei lange Monate. Die Geschichte seines spannenden Zweiteilers scheint auf den ersten Blick allerdings die typischen Bilder, die man bei uns von Russland hat, zu bestätigen: Polit-Sumpf und Mafia, Blicke auf ein heruntergekommenes Land, Einblicke in die russischer Seele – über 200 Minuten lang.
Authentizität war Winkelmann wichtig. Alle Szenen, die in Moskau spielen, wurden auch dort gedreht. Alle russischen Rollen wurden von russischen Darstellern gespielt. Weil hier eine Filmindustrie nicht mehr existiert, sind Tausende von Schauspielern ohne Arbeit. Winkelmann hatte die Qual der Wahl: rund 80 Schauspieler wurden gecastet, mehrere Wochen lang. „Selbst Komparsen sind noch richtige Schauspieler“, so der Regisseur. Auch an Ekel-Szenarien fand Winkelmann in den riesigen Mosfilm-Studios, die leer stehen und verkommen, mehr als genug. An Originalschauplätze hätte man gehen können, doch viele seien einfach unzumutbar gewesen. Winkelmann: „Den Moskauer Leichenkeller konnte ich wirklich nicht zeigen. Keine Kühlung, in den Ecken Haufen voller Leichen. Grauenvoll.“
Foto: WDR
Kritik: „Der letzte Kurier“ (1996) / Spoiler-Alarm!!!
Blutlachen, Kinderleichen, Interieurs aus Dreck, Sperma und Urin – nichts für zarte Gemüter war dieses Thriller-Epos von Adolf Winkelmann. Der Filmemacher mit dem Faible fürs Kino wollte den Zuschauer mit den Augen seiner Heldin sehen lassen, einer Kölner Wohlstandsbürgerin, die es auf der Suche nach ihrem Mann nach Moskau verschlägt. Bald ist sie mitten in einem Alptraum, der von einer Minute zur nächsten ihre Existenz in Frage stellt. Am Ende ist sie es sogar, die ihren Mann, der sich als Wolf im Schafspelz entpuppt, an seine Henker ausliefert.
Eine drastische Geschichte um Kinderschänder und Russenmafia hat Autor Matthias Seelig zu einer stimmigen Genre-Erzählung verdichtet. Im Mittelpunkt: ein naives Luxusweib, das vom letzten Aufrechten der Moskauer Miliz unter Androhung des Liebesentzugs zum Hinsehen gezwungen wird. Nicht nur der jungen Deutschen, auch dem Zuschauer verschlägt es förmlich die Sprache in der Szene, in der ihr der Russe den Tathergang des Sexualmords an Ort und Stelle vorspielt. Sissi Perlinger gibt ihrer Kunsthändlersgattin viele Nuancen, doch Sergeij Garmasch mit der russischen Seele im Blick und der Entschlossenheit im Handeln trägt den düsteren Film, und er spiegelt die Stimmungslage der Bilder. Sie sind schmutzig, intensiv und schnell – oft etwas verwackelt, aus der Hand aufgenommen. Alles in „Der letzte Kurier“, die brillante Technik, die authentische Optik, die glaubhaften Schauspieler, die Story um Moral und Geschäft, das fügt sich zu einem stimmigen Ganzen, das die Sinne betört und den Verstand kitzelt.
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„Der letzte Kurier“ erzählt die Geschichte einer gutsituierten jungen Frau, die erfahren muss, dass ihr Mann offensichtlich schon seit Jahren ein Doppelleben führt. Nach außen der friedvolle Kunsthändler, im Verborgenen ein Mann, der in den Kreisen der Russen-Mafia verkehrt und weitere dunkle Seiten zu haben scheint. Dieser Alice, die aus ihrer deutschen Kunstwelt in die brutale Realität Moskaus gerissen wird, stellte Drehbuchautor Matthias Seelig („Theo gegen den Rest der Welt“ / „Der Sandmann“) einen russischen Chef-Inspektor zur Seite. Der letzte Aufrechte im alltäglichen Sumpf aus Korruption, Mord und Totschlag.
Sissi Perlinger („Stella Stellaris“), bunter Vogel der Münchner Kulturszene, auf der Kabarettbühne wie auf CD zuhause, spielt in dieser 6,5-Millionen-Mark-Produktion ihre erste Hauptrolle in einem ernsten Fernsehfilm. Da war es gewiss nicht leicht, einen charismatischen Vollprofi wie Sergeij Garmasch als Partner zu haben? Perlinger: „Es ging, Sergeij ist ein echter Kavalier.“ Schwerer waren indes die zweisprachige Dreharbeiten: „Sergeij sprach natürlich russisch. Das heißt, ich musste seinen Text genauso gut kennen wie meinen.“
Wie immer bei Grimme-Preisträger Winkelmann („Der Leibwächter“) befindet sich auch „Der letzte Kurier“ technisch auf dem neuesten Stand: Gedreht auf 35mm, im 16:9-Bildformat, mit einem grandiosen Dolby-Surround-Ton. Dazu ein für einen Fernsehfilm höchst gewagtes Kamera-Konzept. „Wir wollten so dokumentarisch wie möglich drehen“, betont Winkelmann, der seit 25 Jahren mit dem tschechischen Kameramann David Slama zusammenarbeitet. „Wir haben fast alles aus der Hand gedreht, um die Spannung und den Schrecken in die Bilder reinzukriegen.“ Hauptgrund für die Handkamera war zunächst, dass man sich unabhängig machen wollte von russischen Beleuchtern, die bekanntlich mittags schlapp machen. Das Ergebnis ist ein ungewöhnlicher „Look“, der bei manch einem Erinnerungen an Fassbinders düstere „Berlin Alexanderplatz“-Ikonografie wachrufen dürfte. (Text-Stand: 1996)