„Tod im roten Kleid“: Gottes Kinder
Der Titel des Films ist die erste Irritation dieses Verwirrspiels, dessen Handlung ständig neue Haken schlägt, denn angesichts der Leiche, die mitten auf der Straße liegt, wäre „Der Tote im roten Kleid“ naheliegender: Das Opfer ist ein junger Mann, und die gut sichtbar fortgeschrittene Fäulnisbildung lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht erst kürzlich gestorben ist. Das nächste Rätsel ergibt sich bei der Obduktion. Er ist zwar bei einem Sturz aus größer Höhe ums Leben gekommen, was zum Fundort am Fuß einer Steilküste passt, aber die Knochenbrüche sind keineswegs frisch: Die Leiche war tiefgefroren, weshalb sich der Zeitpunkt des Todes unmöglich bestimmen lässt; er kann Jahre zurückliegen.
Foto: Degeto / Constantin Television
Die besten „Kroatien-Krimis“ waren bislang jene, in denen die Vergangenheit maßgeblichen Einfluss auf die Gegenwart hatte: weil die Spuren des Bürgerkriegs nach wie vor präsent sind; nicht zuletzt in den Köpfen der Menschen. Im insgesamt elften „Kroatien-Krimi“, der der fünfte Fall für Stascha Novak (Jasmin Gerat) als Leiterin der Mordkommission Split ist, greift Reihenschöpfer Christoph Darnstädt den verbreiteten Katholizismus und somit ein Thema auf, das gerade bei den älteren Kroaten ähnlich bedeutsam ist wie die Erinnerung an den Krieg. Geschickt projiziert das Drehbuch das entsprechende Stadt/Land-Gefälle auf die beiden Hauptfiguren: Großstädterin Stascha ist offenbar nicht religiös, ganz im Gegensatz zum einheimischen Kollegen Emil (Lenn Kudrjawizki). Der Tote im roten Kleid, stellt sich schließlich raus, hieß Anton und ist nach dem frühen Tod der Eltern bei seinem Onkel Ivan (Joachim Nimtz) aufgewachsen, einem gottesfürchtigen Mann, der zu einer kirchlichen Gruppierung namens „Unsere Familie“ gehört; ebenso wie Emils Mutter. Prompt kommt es zu einem Disput zwischen dem Ermittlerduo, der sich durch den gesamten Film zieht, weil der tiefgläubige Kollege seiner Chefin klarzumachen versucht, dass strenge Gläubigkeit nicht gleichbedeutend mit mittelalterlichen Ansichten sein müsse: „Wir sind alle Kinder Gottes“, zitiert er seine Mutter. Stascha indes betrachtet die Mitglieder dieser Organisation, die unter anderem gegen Abtreibung und Homo-Ehen auf die Straße gehen, als religiöse Fanatiker.
Foto: Degeto / Constantin Television
Wie es sich für einen guten Krimi gehört, erfreut Darnstädt nicht nur durch Sorgfalt im Detail, sondern auch durch immer wieder neue Überraschungen. Irgendjemand ist Stascha und Emil ständig einen Schritt voraus: Der ersten Leiche werden noch weitere folgen, einige Menschen schweben zudem in großer Gefahr, und gegen Ende schüttelt Darnstädt zwei Knüller aus dem Ärmel; der eine ist erwartbar, aber der andere ist tatsächlich verblüffend. Ähnlich überzeugend wie die eindrucksvoll verschachtelt erzählte Geschichte ist die Besetzung, weil Michael Kreindl – der Regisseur hat bislang sämtliche Episoden der Reihen inszeniert – eine vorzügliche Auswahl getroffen hat. Es gibt zwar auch prominente Mitwirkende wie Nadja Becker und Michael Roll, doch wichtige Nebenfiguren sind mit weniger bekannten, aber vielversprechenden jungen Kräften besetzt worden. Meira Durand und Slavko Popadic füllen ihre wenigen Szenen als frühere Weggefährten Antons mit großer Intensität. Gleiches gilt für Riccardo Campione in der Rolle des Opfers; die Rückblenden wecken tiefes Mitgefühl für Anton. Abgerundet wird die nicht nur im Rahmen der Reihe überdurchschnittliche Gesamt-Qualität des Films durch eine wohldurchdachte Bildgestaltung (wie zuletzt: Anton Klima), durch eine passende Musik, die vermeintlich typische Balkanrhythmen integriert, ohne ins Klischee zu verfallen (auch Titus Vollmer komponiert regelmäßig für die Reihe) sowie durch diverse schöne Urlaubsbilder. Die Geschichte ist nicht zuletzt auch aufgrund des Finales dennoch zutiefst erschütternd; obgleich der Epilog für einen versöhnlichen Schluss sorgt.
„Vor Mitternacht“: Es bleibt in der Familie
Für einen Autor ist es vermutlich ein Traum, Figuren über mehrere Jahre hinweg begleiten und entwickeln zu dürfen. Eine Reihe bietet zudem die Möglichkeit, in späteren Filmen auf frühere Ereignisse zurückgreifen zu können. „Tod im roten Kleid“ erfreute unter anderem durch ein Wiedersehen mit dem Vater der Kommissarin. Mit der Krimiebene hatte Branko Novak (Rufus Beck), der seine beiden Töchter miteinander versöhnen will, nichts zu tun, aber nun zeigt sich, wie clever Darnstädt die Handlung der nächsten Episode vorbereitet hat. „Vor Mitternacht“ beginnt mit einem Geburtstagsessen für Branko. Tochter Stascha (Jasmin Gerat) macht sich rechtzeitig aus dem Staub, bevor ihre jüngere Schwester Minka (Jenny Meyer) auftaucht. Die Polizistin und das Partygirl waren einst ein Herz und eine Seele, doch dann hat Minka eine Grenze überschritten („Jagd auf einen Toten“); seither reden sie nicht mehr miteinander. Aber auch Minka trifft auf jemanden, den sie lieber nicht wiedergesehen hätte: Vierter Teilnehmer des Abendessen ist Luka, der Cousin der beiden Frauen; und der wird am nächsten Morgen erstochen am Strand gefunden. Gleich die zweite Szene bietet Minka als Verdächtige an: Sie sieht Luka und flüchtet aufs Klo; als er ihr folgt, zückt sie ein Springmesser. Später stellt sich raus, dass er sie vor Jahren nach einer Feier vergewaltigt hat. Luka ist für Branko stets wie ein eigener Sohn gewesen, die Wahrheit hätte dem Vater das Herz gebrochen.
Foto: Degeto / Conny Klein
Diese familiäre Konstellation ist schon mal eine ausgezeichnete Voraussetzung für eine gute Krimi-Story, aber sie wird noch besser: Wegen der verwandtschaftlichen Beziehung überträgt Staschas Vorgesetzter (Max Herbrechter) die Leitung des Falls dem Kollegen Emil. Der verfolgt eine ganz andere Spur: Neben dem Toten lag ein Tütchen mit einem Rohdiamanten; und nun kommt ein zurückliegender Überfall in Zagreb ins Spiel. Im Rollentausch zwischen Emil und seiner Chefin liegt ein besonderer Reiz des Films, und das nicht nur, weil er nun weisungsbefugt ist. Als Stascha ahnt, was der mehrfach wegen sexueller Nötigung angezeigte Luka ihrer Schwester angetan hat, verfolgt sie die Ermittlungen des Kollegen stoisch, aber auch hin und her gerissen: Sie glaubt, die Wahrheit zu kennen, will Minka jedoch nicht verraten. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass Emil doch nicht völlig auf dem Holzweg ist, wie Stascha äußerst schmerzhaft am eigenen Leib erfährt: Als sie Lukas Hotelzimmer durchsucht, wird sie brutal von einem Fremden (David Bredin) niedergeschlagen. Kurz drauf wird der Mann mit derselben Tatwaffe wie beim ersten Mord erstochen…
Im Unterscheid zur letzten Episode hat Darnstädt den zweiten Film um eine amüsante Note ergänzt. Dafür steht unter anderem ein Typ, der gleichermaßen Gangster wie Polizist sein könnte und dessen Undurchsichtigkeit von Bernhard Piesk regelrecht zelebriert wird. Gerade die Dialoge mit dem Rezeptionisten im Hotel sind eine kleine Freude, zumal Moritz Leu den Angestellten ebenfalls mit einem beiläufigen Augenzwinkern verkörpert. Ähnlich amüsant sind die kleinen Momente mit Sarah Bauerett als Rechtsmedizinerin, die offenbar ein Auge auf die attraktive Kommissarin geworfen hat. Die wiederum trägt die unübersehbaren Folgen ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Aktenkoffer des Fremden fortan wie ein Abzeichen; ein unübersehbares Pendant zum Knutschfleck aus „Tod im roten Kleid“. Dramaturgisch gibt es ebenfalls Parallelen: Erneut verblüfft Darnstädts Drehbuch gegen Ende durch eine unerwartete Volte, und wie zum Trotz gegenüber all’ der Tragik endet der Krimi mit einem Moment kurzer Heiterkeit. Besondere Beachtung verdient auch diesmal die Bildgestaltung, zumal viele Szenen verdeutlichen, dass sich Kreindl und Klima wieder nicht mit der erstbesten Einstellung zufrieden gegeben haben. (Text-Stand: 8.1.2022)