„Hast du mal darüber nachgedacht, was in einem so vor sich geht in der letzten Sekunde?“, fragt Kommissarin Anne Vogt ihren Kollegen Henry Weber. Neben ihnen liegt eine junge Frau, die vom Dach gestürzt ist. Er bejaht, sichtlich bewegt. Die Assistenten in der neuen ZDF-Krimiserie legen Ernsthaftigkeit und Empathie an den Tag. Das passt gut zu ihrem Chef, dem Titel gebenden „Kriminalisten“. Hauptkommissar Bruno Schumann ist ein charismatischer Gentleman-Ermittler mit Gespür für Menschen und Situationen, ein umsichtiger Spurenleser, der gern auf modernes Knowhow zurückgreift, dessen Lebenserfahrung und Beobachtungsgabe letztlich aber den Ausschlag geben für seinen Erfolg.
Das ZDF, dem schon mit Rudolf Kowalskis „Stolberg“ der Spagat zwischen „Derrick“, US-Serien-Look und Fernsehfilm-Ästhetik eindrucksvoll gelungen ist, hat mit „Der Kriminalist“ noch eine Schippe draufgelegt. Selten sah man hierzulande einen so dichten, zeitökonomisch erzählten Serienkrimi. Die üblichen Kriminaler-Aktionen wie Routinebefragung oder der Pathologen-Plausch werden so knapp wie möglich erzählt. Auf Gewitzel und Homestorys der Kommissare wird verzichtet. Dafür nimmt man sich Zeit für die psychologischen Szenen. Da gibt es Pausen, Verzögerungen im Dialog, Versprecher – wie im Leben. So nachdenklich und intelligent wie der Held ist auch die Machart dieser neuen Serie. Wie schon bei „Stolberg“ werden hier die 60 Minuten perfekt ausgereizt. Es sind die 12, 13 Minuten mehr gegenüber dem klassischen Krimiserien-Format, die einen Film wie „Am Abgrund“ nicht zum Ex-und-hopp-TV machen. In diesem Auftaktfilm geht es um eine junge Frau, deren Leben innerhalb weniger Monate völlig aus den Fugen gerät: es stirbt der Vater, ein Stalker bedroht sie, sie wird vergewaltigt, verliert ihr ungeborenes Kind, unternimmt einen Selbstmordversuch, prostituiert sich, wird abermals vergewaltigt, findet den Tod. Ein harter Stoff, ein intensiver Film, markante Charaktere!
Allen voran: Schumann. Sein Darsteller Christian Berkel ist ein Glücksfall. Es gibt wenige Schauspieler, die Männlichkeit, Kommunikationslust und Charme so sympathisch und telegen transportieren können wie Berkel. „Der Kriminalist“ und sein markanter Hauptdarsteller bilden bereits in der ersten Folge eine ideale Einheit. Zur gelungenen „Markenbildung“ gehören auch Anna Schudt und Frank Giering als Kommissare, und die aparte Susan Anbeh als Staatsanwältin ist offenbar dazu da, dass nicht nur die Frauen mit Womanizer Berkel etwas zum Gucken haben. Dass Sherry Hormann, eine Regisseurin von Kinofilmen und erfolgreichen TV-Movies, verpflichtet werden konnte, ist ein weiterer glücklicher Umstand. Und auch die Perspektive auf die Fälle zeigt Außergewöhnliches. „Jeder Mord ist auch die Geschichte einer Beziehung zwischen Täter und Opfer“, betont Berkel. In den meisten Krimis gerät allein der Täter in den Fokus der Ermittler. „Bei uns werden die Opferprofile sehr methodisch und klug analysiert. Die Frage ist: Was hat das Opfer dazu prädestiniert, vom Täter ausgewählt zu werden?“ Berkel hat reichlich kriminologische Fachliteratur gewälzt. Da ist er wie sein Schumann: „Der saugt alles um sich herum auf wie ein Schwamm.“