Wenn langlaufende Reihen enden, ist der Abschied stets mit einer gewissen Wehmut verbunden. Das galt auch für den Abschluss von „Der Kommissar und das Meer“, schließlich hatte Walter Sittler den auf Gotland lebenden deutschen Kommissar Robert Anders 14 Jahre lang in 29 Filmen verkörpert. Tröstlich war allerdings die Gewissheit, dass es ein Wiedersehen mit der Figur geben würde. Diese Rückkehr ist so geschickt eingefädelt, als sei die Idee schon vor 15 Jahren entstanden: Anders’ kleine Schwester ist ertrunken, als er ein Kind war; daher hatte er zu Beginn der Reihe eine ausgeprägte Angst vor Wasser. Weil ihn nach seiner Pensionierung nichts mehr in Schweden hält, kehrt er in die alte Heimat nach Lindau am Bodensee zurück. Daher trägt die Fortsetzung den Titel „Der Kommissar und der See“; ähnlich wie der TV-Kollege Stubbe kann der Rentner nicht aus seiner kriminalistischen Haut.
Der erste Film, „Liebeswahn“, funktioniert auch ohne das Vorwissen, beschert Anders jedoch ein unangenehmes Déjà-vu: In der letzten Gotland-Episode („Woher wir kommen, wohin wir gehen“) wurde der Kommissar von seiner Nachfolgerin verdächtigt, seine Ex-Frau ermordet zu haben. Kaum ist der pensionierte Polizist im einstigen Elternhaus eingetroffen, lastet erneut ein Verdacht auf ihm: Als er abends im Bootsschuppen ein junges Mädchen aufstöbert, bietet er ihm an, auf dem Sofa zu schlafen. Lea ist 15, sie hat sich mit ihrem Freund gestritten. Mitten in der Nacht hört Anders Stimmen, doch Lea ist verschwunden. Er informiert die Polizei, die ihn erst mal darüber aufklärt, dass es als alleinstehender Mann nicht gerade klug sei, einen Teenager bei sich aufzunehmen. Am nächsten Morgen wird Leas Leiche im See entdeckt. Anscheinend hat sie sich das Leben genommen, wie auch ihr düsterer letzter Tagebucheintrag nahelegt („Was bleibt, ist nur Lüge“), aber die Obduktion ergibt, dass sie ertränkt worden ist; und zwar am Ufer des Anders-Anwesens.
Fortan wundert sich nicht nur der ehemalige Kommissar, sondern vermutlich auch das Publikum, warum der Ex-Polizist bei seinen Kolleginnen und Kollegen keinerlei Vertrauens-Vorschuss genießt. Immerhin verzichtet die leitende Ermittlerin, Oberkommissarin Wagner (Nurit Hirschfeld), auf eine Vorverurteilung, aber ihr Partner (Dominik Maringer) begegnet dem Anders mit einer durch nichts gerechtfertigten passiven Aggressivität, was die Figur etwas unglaubwürdig wirken lässt; aus dem Kindheitstrauma des Ex-Kommissars konstruiert er ein Mordmotiv. Auch wenn der Film nicht zeigt, wie Lea gestorben ist: Dass Anders nicht der Mörder ist, versteht sich von selbst, zumal es kurz drauf einen echten Verdächtigen gibt. Thomas Wagner, der Anwalt von Leas wegen Drogenbesitzes verurteiltem Freund (Tilman Pörzgen), wird zunächst bloß als Foto auf der Website seiner Kanzlei eingeführt, aber seine arrogante Pose spricht Bände. Außerdem fährt der Jurist einen sprtfressenden Super-Sportwagen und ist damit nach den ungeschriebenen Gesetzen des TV-Krimis als Antagonist gebrandmarkt; Bernhard Schir wird ohnehin gern als Verdächtiger besetzt. Ungleich interessanter ist daher die personelle Konstellation: Wagner ist nicht nur der Vater von Annika, sondern auch der Gatte von Anders’ Jugendliebe Johanna (Katharina Böhm), die für das Amt der Bürgermeisterin kandidiert und negative Schlagzeilen gar nicht brauchen kann. Das blüht ihrem Mann jedoch, denn die Anzeichen verdichten sich, dass er ein Verhältnis mit Lea hatte.
Angesichts der aufdringlichen Beiläufigkeit, mit der Regisseur Felix Karolus den Anwalt einführt, versteht sich im Grunde von selbst, dass sich der Jurist allenfalls eines moralischen Vergehens schuldig gemacht hat; wer ein bisschen Krimi-Routine mitbringt, ahnt alsbald, wer das Mädchen auf dem Gewissen hat. Die Inszenierung ist ebenfalls nicht gerade aufregend. Sehenswert ist „Liebeswahn“ vor allem wegen des Ensembles, zu dem neben den gut geführten jungen Mitwirkenden auch Nicole Marischka als Annikas Chefin gehört. Schon das Langfilmdebüt des Regisseurs, „An seiner Seite“ (ZDF/Arte 2021), ein Drama zu Ehren Senta Bergers über eine Frau, die im Schatten ihres Gatten verkümmert, hatte seine Stärken vor allem in der Arbeit mit dem exzellenten Trio Berger/Simonischek/Thieme. Dass Kameramann Clemens Majunke für diverse schöne Stimmungsbilder vom Bodensee gesorgt hat, versteht sich von selbst. Immerhin bilden der alte Anders und die junge Annika, als sie endlich nicht mehr gegen ihn, sondern mit ihm ermittelt, ein vielversprechendes Gespann; die Schweizerin Nurit Hirschfeld hat im deutschen Fernsehen bislang nur Nebenrollen gespielt. Für Heiterkeit sorgt Gerhard Wittmann als früherer Mitschüler und heutiger Bauunternehmer, der den Herrensitz von Anders’ Eltern ungefragt in eine Baustelle verwandelt und ihm eine Zehner-Karte fürs Hallenbad in die Hand drückt – zum Duschen. Das Drehbuch stammt von Jürgen Werner; für „Der Kommissar und das Meer“ war der umtriebige Autor (von „Tatort“ bis „Traumschiff“) noch nicht aktiv. Ähnlich wie Wolfgang Stumph in den „Stubbe-Specials“ darf auch Walter Sittler fortan einmal pro Jahr seine Rolle als Robert Anders fortsetzen.