Er soll es sich auf seiner Terrasse gemütlich machen und den Blick auf den See genießen, anstatt sich dauernd in die Ermittlungen einzumischen: ein frommer Wunsch. „Ich weiß gar nicht, wie das geht“, entgegnet Robert Anders, „kein Polizist mehr zu sein.“ Die Szene trägt sich kurz vorm Finale zu und verrät viel über die Melancholie, die mit der ZDF-Reihe einhergeht: Was hat das Dasein noch zu bieten, wenn der Beruf der Lebensinhalt war? Auf der Terrasse sitzen, wie ihm die Kripo-Chefin empfiehlt, kommt für Anders offenkundig nicht infrage, und die Anregungen seines Freundes Hannes klingen auch nicht erstrebenswert. Dass der pensionierte Kommissar das Kriminalisieren nicht lassen kann, hat allerdings nicht nur mit seinem beruflichen Ethos zu tun. Die Fälle, mit denen ihn die Drehbücher seit seiner Rückkehr in die frühere Heimat an den Bodensee konfrontieren, betreffen ihn stets persönlich: Ein Mädchen rennt in Panik durch einen Wald, kommt zu einer Straße, wird von einem Auto erfasst und bleibt leblos liegen; der Fahrer des Wagens war anscheinend Robert Anders.
Foto: ZDF / Patrick Pfeiffer
Die Österreicherin Esther Rauch (Buch und Regie) hat zuletzt unter anderem „Ohne jede Spur“ (2025) über die Entführung der Triathletin Nathalie Birli gedreht. Seine besondere Faszination verdankte das „True Crime“-Drama vor allem den fesselnden Kammerspielszenen. Beim Bodenseekrimi hat Mario Minichmayr, Kameramann hier wie dort, ganz andere Akzente gesetzt: Schon die ersten stimmungsvollen Bilder mit den Nebelschwaden über dem Wasser prägen die Stimmung von „Das fremde Kind“. Das von der Musik verkündete Unheil manifestiert sich in dem Unfall, dann folgt eine Rückblende: Anders (Walter Sittler) und Oberkommissarin Annika Wagner (Nurit Hirschfeld) haben sich zufällig auf dem Lindauer Markt getroffen, wo Hannes (Gerhard Wittmann) versalzenen Räucherfisch feilbot. Zwei Honigschnäpse sollten den unangenehmen Geschmack vertreiben. Annika wollte Anders nach Hause bringen, weil jemand sein halbes Fahrrad geklaut hat. Die zulässige Promillegrenze ist nicht überschritten, doch er weiß natürlich, welche Konsequenzen der Unfall für die Karriere der jungen Polizistin hätte; also gibt er an, er sei gefahren. Nun droht ihm jedoch eine Gefängnisstrafe, womöglich gar wegen fahrlässiger Tötung, falls Hannah Brunner nicht mehr aus dem Koma erwachen sollte.
Schon dieser Teil der Handlung ist mehr als fesselnd, aber die eigentliche Geschichte ist eine ganz andere: Unter Hannahs Jacke sind 100.000 Franken versteckt. Vor dem Unfall ist sie mit ihren Eltern Sophia und Philipp (Sinja Dieks, Slavko Popadic) in der Schweiz gewesen. Die Rückblende offenbart, dass die beiden Erwachsenen auf der Fähre zwischen Romanshorn und Friedrichshafen gründlich von einem Zollduo kontrolliert worden sind. Wer Rauchs ZDF-Serie „Bauchgefühl“ (2024) über eine ungewollt schwangere Lehrerin gesehen hat, wird völlig zu Recht davon ausgehen, dass Hauptdarstellerin Laura Berlin in dem Krimi mehr als bloß einen Kurzauftritt als Zöllnerin hat. Warum und vor wem Hannah geflohen ist, lässt die Rückblende jedoch offen.
Foto: ZDF / Patrick Pfeiffer
Stattdessen bringt das Drehbuch zum vierten Film aus der ZDF-Reihe „Der Kommissar und der See“ eine neue Figur ins Spiel, die schon allein wegen ihrer Besetzung einen besonderen Status besitzt: Jochen Krimmer arbeitet für ein IT-Dienstleistungsunternehmen, das unter anderem für die Rüstungsindustrie tätig ist. Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben; die ungeklärten Umstände ihres Todes werden gegen Ende noch eine erschütternde Rolle spielen. Hannahs Eltern leben auf Krimmers Anwesen; sie führt den Haushalt, er kümmert sich um Haus und Hof. Die beiden sind allerdings wie vom Erdboden verschluckt; eine clevere Parallelmontage legt nahe, dass Krimmer daran nicht unschuldig ist. Die Schwermut, mit der Juergen Maurer die Figur versieht, passt perfekt zu der von Mario Grigorovs Musik geprägten Herbststimmung des Films.
Gelegentlich klingen die Dialoge etwas aufgesagt, was schade ist; erst recht, wenn der jeweilige Schlagabtausch eigentlich clever formuliert ist. Immer noch überflüssig ist zudem die ausgeprägte Antipathie von Kommissar Keller (Dominik Maringer) gegen Anders. Abgesehen von Walter Sittler, der mit seiner würdevollen Aura ohnehin alles überstrahlt, erfreut der Film durch diverse wirkungsvolle Einfälle: Annikas Panikattacken nach dem Unfall finden vor allem auf der Tonspur statt, und der düstere Eindruck Krimmers wird durch seine Kleidung noch betont. Spätestens der behutsam gefilmte tragische Schluss belegt ohnehin die Klasse der Regisseurin.

