Ein wettspielsüchtiger Mann entführt die kleine Tochter seines besten Freundes, um seine Schulden zu bezahlen: Das ist in aller Kürze der Inhalt der 23. Episode aus der ZDF-Reihe „Der Kommissar und das Meer“. Eine ausführliche Zusammenfassung wäre allerdings kaum umfangreicher. Der Hinweis auf den Täter ist auch kein Spoiler-Vergehen, denn Autor Harald Göckeritz gibt die Identität des Entführers ziemlich genau in der Mitte des Films selber preis. Auf diese Weise fügt er der Handlung gerade im richtigen Moment eine weitere Erzähl-Perspektive hinzu. Regie führt Thomas Roth, der die 2007 gestartete Reihe lange Zeit im Wechsel mit Anno Saul geprägt hat; er mit sechs, Saul mit sieben Filmen. Ab 2014 hat Miguel Alexandre sechs Episoden in Folge gedreht. Die auf Gotland spielenden Geschichten mit Walter Sittler als deutschstämmigem Kommissar Robert Anders waren schon immer skandinavisch düster, aber Alexandre, seit einigen Jahren auch sein eigener Bildgestalter, hat den Filmen zudem einen entsprechenden Look gegeben. Roth und Kameramann Arthur W. Ahrweiler bleiben dieser typischen Stimmung treu; ansonsten orientiert sich die Inszenierung wieder stärker am Vorbild dänischer Serien: überschaubare Handlung, viel Atmosphäre.
„Tage der Angst“ beginnt mit einem Mord: In der Nähe eines Strands wird aus heiterem Himmel ein Mann erschossen; ein Kleinkrimineller, wie sich später herausstellt. Zur gleichen Zeit holt Anders seinen älteren Sohn Niklas (Sven Gielnik) am Flughafen ab. Weil der jüngere, Kasper, seine Jacke am Strand vergessen hat, tauchen die beiden just in dem Moment dort auf, als das Verschwinden der sechsjährigen Stella bemerkt wird. Vater und Sohn beteiligen sich an der Suche und entdecken den Toten. Die interessantesten Figuren der Geschichte sind jedoch weder Stellas Eltern noch Kidnapper Ole Isaksson (Douglas Johansson), sondern zwei heranwachsende Mädchen, die ganz offensichtlich etwas zu verbergen haben: Lucy (Felicia Truedsson) ist Stellas ältere Schwester, Ronja (Josephine Wohlström) Oles Tochter. Die beiden Familien sind Nachbarn, Ole und Stellas Vater Lasse Wallin (Jens Albinus) Partner in einer erfolgreichen Firma. Anfangs verbringt der Film viel Zeit mit den Wallins, die sich nicht einigen können, ob sie die Polizei informieren sollen, als sie eine Lösegeldforderung erhalten. Lasse will die Übergabe allein durchziehen, doch Anders hat das bereits geahnt und folgt ihm. Diese sehr ausführliche Szene ist typisch für Stil und Tempo des Films: Im Grunde passiert gar nichts, aber dafür nimmt sich Roth viel Zeit.
Während es eine Frage des Geschmacks ist, ob man diese Art der Erzählweise mag, ist ein akustischer Aspekt ein echtes Manko: In den Gotland-Krimis wirken außer Sittler und Anders’ Kollege Wittberg, verkörpert von Andy Gätjen, seit vielen Jahren kaum noch deutsche Schauspieler mit. Die Filme werden überwiegend auf Schwedisch gedreht und müssen synchronisiert werden, was mal besser, mal schlechter gelingt. In diesem Fall wird das Gefälle vor allem in den gemeinsamen Szenen der beiden Mädchen deutlich: Die Sprecherin der Lucy macht ihre Sache derart vorzüglich, dass sie geradezu „echt“ klingt, als hätte die junge Felicia Truedsson ihre Dialogsätze tatsächlich auf deutsch gesprochen (Elise Eikermann ist ihre deutsche Stimme); Josephine Wohlström klingt dagegen nach typischer Synchronstimme. Da trifft es sich gut, dass Lucy die wichtigere Rolle ist: Die ohnehin verschlossene große Schwester wird durch die Entführung endgültig zum schwarzen Schaf ihrer Familie, weil sie Stella im Auge behalten sollte. Außerdem ist sie überzeugt, Ole sei ihr leiblicher Vater. Tatsächlich hatte er mal was mit ihrer Mutter, aber das lag offenbar schon länger zurück. Leider lässt der Film offen, warum Anders ihr am Ende mit Bestimmtheit sagen kann, dass dies nicht der Fall sei.
Das Potenzial der familiären Verwicklung nutzt Göckeritz’ Drehbuch ohnehin nicht aus, Stellas Eltern verschwinden irgendwann mehr oder weniger aus der Handlung. Auch das ist bedauerlich, immerhin ist der dänische Lasse-Darsteller Jens Albinus unter den beteiligten Skandinaviern der einzige, der auch hierzulande bekannt ist; Albinus war Hauptdarsteller der dänisch-deutschen Serie „Der Adler – Die Spur des Verbrechens“ und hat bereits in einigen deutschen Fernsehfilmen („Sprinter – Haltlos in die Nacht“) mitgewirkt. Dafür profitiert Walter Sittler davon, dass nach längerer Zeit wieder mal Sven Gielnik mitspielt: weil Robert Anders mit seinem erwachsenen Sohn natürlich ganz andere Gespräche führen kann als mit seiner (diesmal auf einer Fortbildung weilenden) Frau oder seinen Kollegen. Die Dialoge zwischen den beiden – „Was macht die Liebe?“ „Gestaltet sich schwierig“ – sind die einzigen Momente, in denen ansatzweise so etwas wie Humor aufblitzt. Ansonsten ist „Tage der Angst“ derart ruhig erzählt, dass eine schwunghafte Kamerafahrt gleich aus dem Rahmen fällt. Das gilt erst recht für eine Einstellung, die recht gut illustriert, wie sich der im Grunde bedauernswerte Ole fühlt: Die Welt rast im Zeitraffer an ihm vorbei. (Text-Stand: 9.12.2017)