Menschen sterben nicht einfach so; jedenfalls nicht im Krimi. Deshalb ist Cathrin Blake (Désirée Nosbusch) auch überzeugt, dass ihr betagter vermögender Nachbar ermordet worden ist. Darauf deutet allerdings gar nichts hin. Sein Tod ist schon ein paar Tage her, und weil sein Hund irgendwann halb verhungert war, ist die Leiche kein schöner Anblick. Superintendent Kelly weist Cathrins Bitte, den Körper obduzieren zu lassen, dennoch zurück. Kurz drauf ignoriert er ihre Intuition ein zweites Mal, als er sie um eine Einschätzung von Bridget Howard bittet. Die reizende alte Dame leitet eine Seniorenresidenz, die sich all’ jener verlorenen Seelen annimmt, für die in der Gesellschaft kein Platz mehr ist. Einer ihrer Schutzbefohlenen ist tot unter einer Brücke gefunden worden: Schädelbruch! Später stellt sich raus, dass er an einer Überdosis Insulin gestorben ist, obwohl er kein Diabetiker war.
Cathrin Blake ist überzeugt, dass Bridget Howards Anteilnahme bloß geheuchelt ist. Der Polizist hält das für absurd: Die Frau engagiert sich überdies für mittellose Menschen, sie ist so etwas wie die Mutter Teresa von Galway, und ihre Brownies sind ein Gedicht. Dass im Heim des Öfteren gestorben wird, liegt aus Kellys Sicht in der Natur der Sache. Dann mehren sich allerdings die Anzeichen, dass es wohl nicht bei allen Sterbefällen mit rechten Dingen zugegangen ist. Einige Menschen, die nur vorübergehend im „Eden View“ residiert haben, sind spurlos verschwunden; Bridget Howard kann aber nach wie vor über ihre Konten verfügen. Schließlich besteht kein Zweifel mehr: Diese Frau ist eine Massenmörderin; und selbstredend gibt es auch eine Verbindung zum Ableben von Cathrins Nachbar. Wenn die Heimleiterin einer Angehörigen versichert, ein Neuankömmling sei bei ihr „in guten Händen“, wird „Gnadentod“ zumindest hintergründig zum Horrorfilm.
Damit ist nicht zu viel verraten, Katrin Bühlig offenbart die Auflösung in ihrem ersten Drehbuch für den „Irland-Krimi“ bereits mit dem Ende des ersten Akts. Der Qualität des Films tut das keinen Abbruch, im Gegenteil, und das liegt vor allem Julia Dearden. Die erfahrene irische Bühnenmimin versieht die Heimleiterin mit einer faszinierenden Mischung aus Freundlichkeit und Arroganz. Anfangs verrät allein ein überheblicher Zug rund um den Mundwinkel, dass Cathrin mit ihrer Einschätzung genau richtig liegt: Nach Ansicht der Psychologin ist die Frau eine Psychopathin, die sich für unangreifbar hält. Später quillt ihr die Dünkelhaftigkeit aus allen Knopflöchern, zumal sie auf jede Frage von Kelly (Declan Conlon) eine passende Antwort hat. Gerade die Befragungsszenen sind nicht nur gut ausgedacht, sondern zum Teil auch überraschend witzig, als die Heimleiterin beispielsweise losprustet, weil der Polizist sich erkundigt hat, ob sie einen Anwalt will. Im Unterschied zu einigen anderen Mitwirkenden sind Dearden (Kerstin Sanders-Dornseif) und Conlon (Tom Vogt) auch ausgezeichnet synchronisiert.
Davon abgesehen erzählt Bühlig wahrlich keine typisch irische Geschichte; die Handlung könnte sich auch hierzulande zutragen. Tatsächlich räumt die für die „Bella Block“-Episode „Weiße Nächte“ 2008 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnete Autorin im Pressematerial ein, noch nie in Irland gewesen zu sein, das habe sie erst später nachgeholt; ihre Detailkenntnisse sind also das Resultat einer Internetrecherche. Da der Film zu großen Teil aus Innenaufnahmen im Polizeirevier oder im Seniorenheim besteht, kommt der Schauplatz optisch allein durch atmosphärische Zwischenschnitte mit Aufnahmen der malerischen Westküste zur Geltung. Auch handwerklich bewegt sich diese neunte Episode im Rahmen des üblichen Donnerstagskriminiveaus; „Gnadentod“ ist Matthias Tiefenbachers vierter „Irland-Krimi“, für die Bildgestaltung war jedes Mal Hanno Lentz verantwortlich. Der Kameramann, für „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf 2021 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, gehört hierzulande zu den besten seines Fachs; die Auflösung der vielen Gesprächsszenen wirkt allerdings eher konventionell.