Manchmal genügt es, eine Tür zu öffnen, um in eine Welt jenseits unserer Vorstellungen zu gelangen: Das Erzählmotiv ist so alt wie die Fantasy-Literatur und wird immer wieder gern aufgegriffen. In Stephen Kings Märchen „Fairy Tale“ (2022) führt eine Treppe in die Anderwelt, in Cornelia Funkes „Reckless“-Saga (seit 2010) ist ein Spiegel der Durchgang, ebenso wie in der BR-Serie „Mysterium“ (2021/22, Kika). In dem 1989 erschienenen Jugendroman „Der Greif“ von Wolfgang und Heike Hohlbein ist der Weg komplizierter, es sei denn, man ist wie der 16jährige Mark ein „Weltenwanderer“; dann genügt es, die Augen zu schließen und sich in den „Schwarzen Turm“ zu wünschen, eine Welt, die aus verschiedenen riesigen Ebenen besteht. Dort lauert jedoch das pure Grauen: Herrscher dieser Parallelwelt ist das titelgebende Ungeheuer. Seine Untertanen sind gehörnte Wesen mit Steingesichtern, die die im Schwarzen Turm lebenden Menschen jagen, um sie als Sklaven in Minen arbeiten zu lassen. Wer seine fünf Sinne beisammen hat, bleibt daher lieber daheim; aber so funktionieren solche Geschichten natürlich nicht.
Die beiden kreativen Köpfe hinter der sechsteiligen Serie bilden eines der spannendsten Duos im deutschen Fernsehen: Die „Tatort“-Beiträge von Regisseur Sebastian Marka und dem kongenialen Autor Erol Yesilkaya gehörten stets zu den besten ihrer jeweiligen Jahrgänge; für „Meta“ (2018, Berlin) ist das Duo mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Ihr letzter gemeinsamer Krimi vor dem nicht minder sehenswerten Science-Fiction-Film „Exit“ war „Parasomnia“ (beide 2020), ein ziemlich gruseliger „Tatort“ aus Dresden, in dem ein Mädchen zwischen Traum und Wirklichkeit wandelte. Mark (Jeremias Meyer) ergeht es ganz ähnlich; allerdings entpuppen sich seine Träume als Mischung aus Erinnerung und Vorbotschaften. Die erste von sechs jeweils rund einstündigen Folgen beginnt 1984 mit einer Flucht, als Mark zehn Jahre jünger war: In Panik zerrt der Vater (Golo Euler) seine beiden Söhne ins Auto. Im Wagen dreht er sich zu Mark um, versichert ihm, alles werde gut; dann geht sein Kopf in Flammen auf, und Mark erwacht schreiend aus seinem Alptraum. Es ist das Jahr 1994, heute wird er 16 Jahre alt, und daher weiht ihn der ältere Bruder Thomas (Theo Trebs) in seine Bestimmung ein.
Seit Generationen hütet die Familie Zimmermann die „Chronik“, einen schweren Folianten voller mysteriöser Zeichnungen und rätselhafter Anweisungen. Das Buch ist der Schlüssel zum Schwarzen Turm, und prompt erlebt Mark in einem weiteren Alptraum am eigenen Leib, wie gefährlich die düstere Parallelwelt ist. Der Greif kann zwar nicht in unsere Welt eindringen, aber seine Macht ist so groß, dass er Steinfiguren zum Leben erwecken kann. Thomas zeigt dem Bruder ein geheimes Versteck des Vaters, der sich nach der Flucht vor zehn Jahren offenbar eigenhändig in seiner Steinmetzwerkstatt auf dem Friedhof verbrannt hat. Durch Zufall entdeckt Mark ein Lot, das sich buchstäblich zu ihm hingezogen fühlt; auserwählt zu sein ist ein unverzichtbares Merkmal von Fantasy-Helden. Trotzdem hält der Junge die ganze Geschichte erst mal für Humbug. Das ändert sich, als ein steinerner Sensenmann den Brüdern nach dem Leben trachtet und sie von einem steinernen Engel gerettet werden. Als Thomas schließlich allein loszieht, um das schändliche Treiben des Greifs für immer zu beenden, muss Mark ihm notgedrungen folgen; und jetzt geht die Geschichte erst richtig los.
Das Alter des Helden gibt einen unmissverständlichen Hinweis auf die Zielgruppe: Freude an der Serie hat in erster Linie, wer sich ein kindliches Gemüt bewahrt hat. Ein besonderes Vergnügen sind die jeweils rund einstündigen Episoden für all’ jene, die ihre Jugend in den Neunzigern verbracht haben, denn neben der entsprechenden Ausstattung spielt auch die Musik eine große Rolle: Thomas hat einen Plattenladen („Orakel von LP“, sprich: „Ellpi“), Mark ist sein Kompagnon. Aufgrund der familiären Vorgeschichte ist er an seiner Schule zwar ein Außenseiter, aber da er stets die neuesten Alben auf Kassette überspielen kann, wird er abgesehen vom fiesen Mathelehrer (Stephan Grossmann) weitgehend in Ruhe gelassen. Die von ihrer in Berlin lebenden Mutter vorübergehend beim Vater in der rheinischen Kleinstadt geparkte neue Mitschülerin Becky (Lea Drinda) ist von ganz ähnlichem Schlag, was die Handlung um eine Romanze bereichert, selbst wenn sie die Tochter von Marks Therapeut (Thorsten Merten) ist.
Yesilkayas Drehbuch ist eine recht freihändige Adaption des im Ueberreuter Verlag erschienenen Romans: Er hat die knapp 600 Seiten umfassende Geschichte in ihre Einzelteile zerlegt, neu zusammengesetzt, geschickt modernisiert und um weitere junge Figuren ergänzt; „Der Greif“ ist streckenweise ein typisches Teenager-Drama mit entsprechenden Weltschmerz-Liedern. Anders als die ab zwölf Jahren empfohlene Vorlage würde die Serie angesichts einiger brutaler Momente aber wohl eine strengere Altersfreigabe bekommen. Besonders eklig ist eine Szene, in der ein Monster in Beckys Rachen verschwindet. Die Atmosphäre der ständigen Bedrohung ist für ein jüngeres Publikum ohnehin schwer auszuhalten; gleiches gilt für den doppelten Verrat der Mutter an ihren beiden Söhnen. Gestaltwandler sorgen zudem dafür, dass Mark niemandem trauen kann, und bescheren der Serie immer wieder verblüffende Momente: Der Greif hat unsere Welt längst infiltriert.
Die jungen Mitwirkenden stoßen allerdings mitunter an ihre Grenzen, weshalb Markas Umsetzung vor allem visuell überzeugt. Zwei Folgen sind von Max Zähle, der mit dem Vorhöllen-Krimi „Limbus“ (2020) den wohl ungewöhnlichsten Münster-“Tatort“ der letzten Jahre gedreht hat. Da es hierzulande keinerlei Fantasy-Tradition gibt – letztes nennenswertes Werk in diesem Genre war Wolfgang Petersens Michael-Ende-Verfilmung „Die unendliche Geschichte“ (1984) –, war Marka bei den Kreaturen auf handwerkliche Unterstützung aus Großbritannien angewiesen. Die finstere Welt des Schwarzen Turms ist dank entsprechender Bildgestaltung (Willy Dettmeyer) ebenso beeindruckend wie das Design der Steinköpfe, für die zudem eine eigene Sprache erfunden worden ist. Kein Wunder, dass Marka und Yesilkaya viel Zeit in die Entwicklung der Serie investieren mussten. Das Szenenbild (Sebastian Krawinkel) verdient ebenfalls besondere Beachtung: Die Welt des Jahres 1994 enthält zwar viele Anknüpfungspunkte, wirkt aber stellenweise auch wie neu erfunden. Marka (Jahrgang 1978) hat das Buch des Ehepaars Hohlbein schon als Elfjähriger gelesen und sich bereits als Filmstudent um die Rechte bemüht. Ihn hat als Kind nicht zuletzt die Botschaft beeindruckt: Da sich der Greif von Hass ernährt, wird Mark ihn erst besiegen können, wenn er sich selbst vom Hass befreit. Der Epilog sorgt dafür, dass die Geschichte nach dem spannenden Finale noch längst nicht zu Ende ist. (Text-Stand: 10.5.2023)
Soundtrack: The Black Crowes („Remedy“), Pearl Jam („Even Flow“), Radiohead (“Creep”), The Smashing Pumpkins („Today”), Soundgarden („Black Hole Sun”), Keziah Jones („Where’s Life?”)