Ein Tag wie jeder andere entpuppt sich als „der erste Tag“ einer Katastrophe. Um 4.05 Uhr heulen im tschechischen Kernkraftwerk Dukovany die Sirenen. Im niederösterreichischen Ort Horn, 58 Kilometer südwestlich, ist die Welt derweil noch in Ordnung. In der Nationalen Sicherheitszentrale und im Bundesministerium für Inneres weiß man bald Bescheid, ohne das tatsächliche Ausmaß des Reaktorunfalls zu kennen. Entsprechend zurückhaltend ist die Informationspolitik: Man will eine Panik vermeiden, lieber läuft man Gefahr, dass ein paar Menschen „a bisserl Strahlung“ abbekommen. Die Entscheidungsträger sitzen in Wien, Niederösterreich ist weit. Erst als sich die Wetterlage verschlechtert und eine sehr viel höhere Strahlenverseuchung als angenommen gemessen wird, rufen die Behörden den Notstand aus.
Radioaktivität und ihre direkte Wirkung sieht und riecht man nicht. Also geht für die Menschen in Horn alles zunächst seinen gewohnten Gang zwischen Arbeitsplatz und Zuhause, Kindergarten und Schule, zwischen privatem und öffentlichem Leben. „Der erste Tag“ beginnt mit Alltagsszenen – bis die ersten „Unfall“-Meldungen durchsickern. Andreas Prochaska entwickelt auf der Grundlage eines geradezu dokumentarisch anmutenden Buchs von Susanne Freund eine unaufgeregte Exposition, die wie der gesamte Film die Chronologie der Ereignisse nachzeichnet. So entsteht ein sachlicher Realismus, der gekennzeichnet ist durch seine ständigen Perspektivwechsel, durch Handkamera & Verzicht auf vordergründige Identifikation mit dem reichhaltigen Personal. Lange Zeit täuscht das schöne Wetter über die atomare Bedrohung hinweg. Menschen stehen im Gegenlicht, scharf zeichnen sich die Konturen vom Hintergrund ab, dunkle Schatten liegen vorausdeutend auf den Gesichtern.
Die Spannungsschraube zieht sich fast unmerklich von selber an: der Störfall, die Informationspolitik, das Wetter erhöhen die Bedrohung der Menschen. Die Bilder registrieren die zunehmende Gefahr, ohne künstlich zu dramatisieren. 90 Minuten lang hat dieser Film keine Zeit zu verlieren, was sich vor allem im meisterlichen Schnitt von Alarich Lenz widerspiegelt. Indem „Der erste Tag“ auf jegliche Rhetorik, künstliche Empathie und Anti-AKW-Polemik verzichtet und sich nicht der gängigen Muster des Katastrophenthrillers bedient, schockt dieser Film auf eine sehr viel beklemmendere und realistisch nachhaltige Weise. Und so ist Prochaskas überragend inszeniertes TV-Movie ohne spekulative Panikmache die ideale Erinnerungshilfe für Menschen, die Tschernobyl aus ihrem Gedächtnis gestrichen haben, und Pflichtprogramm für ignorante Politiker. (Text-Stand: 23.4.2010)