Weil Istanbul (wo Erol Sanders „Mordkommission“ ermittelt) als Drehort immer heikler wird, hat die ARD-Tochter Degeto für ihre Donnerstagskrimis nach einer neuen Spielstätte gesucht, die ähnliche Voraussetzungen mit sich bringt: mediterranes Flair, schöne Schauplätze, kulturelle Vielfalt, Weltoffenheit und vor allem friedliche Bedingungen; die Wahl fiel ausgerecht auf das derzeit dank der Unabhängigkeitsbestrebungen äußerst unruhige Barcelona.
So hätte es gewesen sein können, und vielleicht war es auch so; immerhin spielt die nächste Doppelfolge von „Mordkommission Istanbul“ in Thailand. Abgesehen davon wird sich die Stimmung in Katalonien auch wieder beruhigen, und das Streben nach Unabhängigkeit ist ohnehin nicht mit der ständigen Furcht vor terroristischen Anschlägen zu vergleichen. Ansonsten ist Barcelona aber eine ebenso ausgezeichnete Wahl wie die Hauptdarsteller: Clemens Schick steht neben seiner Bühnenarbeit zwar immer wieder auch vor der Kamera, dürfte aber dennoch für viele Fernsehzuschauer ein neues Gesicht sein. Sein reduziertes, konzentriertes Spiel verleiht seiner Figur eine Aura der Ambivalenz. Nicht minder sehenswert ist Anne Schäfer, bis 2016 Mitglied des „Soko Köln“-Ensembles, die als Kindsmörderin in dem Kinokammerspiel „Jasmin“ (2011) herausragend gut war und zu Beginn dieses Jahres in der ARD-Romanze „Arzt mit Nebenwirkung“ beeindruckte. Frische Gesichter, ein traumhafter Drehort: perfekte Voraussetzungen für eine neue Reihe; fehlt nur noch eine spannende Geschichte. Leider handelt „Über Wasser halten“ bloß von den tödlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenhändlern; der Krimifall (Buch: Hafemeister, Kremser, Wolfertstetter) könnte sich auch in Berlin, London oder Paris zutragen.
Foto: Degeto / Lucia Faraig
Wie bei einigen anderen Reihen der ARD-Tochter Degeto ist die Gestaltung der Hauptfiguren wesentlich interessanter. Natürlich stehen deren Entwürfe bei der Konzeption einer neuen Reihe oder Serie in der Regel an erster Stelle, sie sind es schließlich, denen das Publikum durch die Handlung folgen soll. Angesichts der Krimischwemme ist es allerdings eine echte Herausforderung, neue Konstellationen zu finden. Der „Barcelona-Krimi“ setzt auf die Kombination schwuler Einzelgänger und alleinerziehende Mutter; es liegt an der Qualität von Schick und Schäfer, dass aus den Figuren keine Klischees werden, sondern Spannungsfelder entstehen. Im Auftaktfilm müssen die beiden erst einmmal eingeführt werden: Fina Valent (Schäfer) ist mit ihrer Tochter (Tara Fischer) von Palma de Mallorca in die katalanische Hauptstadt gezogen, weil sich die 15jährige María in einen mehr als doppelt so alten Kiffer verliebt hatte; dummerweise hat sich der Typ durch den Ortswechsel nicht abschütteln lassen. Davon abgesehen scheinen Mutter und Tochter einen guten Draht zueinander zu haben. Für das Potenzial der Rollen stehen nicht zuletzt die Darstellerinnen: Anne Schäfers Hauptrollenkarriere hat gerade erst begonnen, und Tara Fischer ist eine viel versprechende junge Schauspielerin. Zuletzt imponierte sie an der Seite von Anna Loos als Titelfigur in dem „Helen Dorn“-Krimi „Das verlorene Mädchen“, zuvor ist sie in der ZDF-Komödie „Hilfe, wir sind offline!“ sowie in zwei Episoden der ZDF-Sonntagsreihen „Katie Fforde („Vergissmeinnicht“) und „Inga Lindström“ („In deinem Leben“) sehr positiv aufgefallen.
Foto: Degeto / Lucia Faraig
Schick wiederum versieht den eher wortkargen, in der Halbwelt Barcelonas dafür umso besser vernetzten Kommissar mit einer reizvollen Mischung aus Härte und Zartheit. Allerdings scheint Xavi Bonets sexuelle Orientierung ein erotisches Knistern zwischen den beiden Hauptfiguren auszuschließen; auch wenn sein Vater überzeugt ist, Homosexualität sei therapierbar. Baptiste Bonet (Hans-Uwe Bauer) ist eine Figur mit viel Zündstoff: Der Politiker kandidiert für das Amt des Bürgermeisters und kann sich kurz vor der Wahl keinen Skandal erlauben. Dass sein Sohn schwul ist, empfindet er als solchen, selbst wenn er bei seiner Kampagne für ein tolerantes Barcelona wirbt; prompt macht sich Xavi erpressbar, als er beim Kuss mit einer nächtlichen Zufallsbekanntschaft fotografiert wird.
All’ das ist interessanter als die nicht sonderlich packende Krimiebene, auch wenn der Einstieg recht vielversprechend ist: Nach dem morgendlichen Schwimmen findet Xavi am Strand einen niedergeschlagenen Mann, der offenbar das Gedächtnis verloren hat. Kurz drauf legt der junge Sameer (Altamasch Noor) die Leiche seines Bruders vor einer Moschee ab. Er ist einer von vielen illegalen Einwanderern aus Pakistan, die sich als fliegende Bierverkäufer über Wasser halten. Die Drogenhändlerin Izar (Ilona Grandke) hat ihm versprochen, Frau und Tochter in einem Container ins Land zu schmuggeln, wenn er dafür ihren Stoff verkauft; und natürlich ist der Mann vom Strand auch in der Sache verwickelt. Oberboss des Drogenclans ist „El Tauró“ (Lluís Marco), „der Hai“, der im Hintergrund die Fäden zieht und skrupellos jeden aus dem Weg räumen lässt, der nicht nach seiner Pfeife tanzt, weshalb es am Ende innerhalb weniger Minuten diverse Tote gibt. Einigermaßen spannend wird es aber erst, als Xavi und Fina inmitten Tausender Container den richtigen suchen, weil Izars Sameers eingesperrte Familie ihrem Schicksal überlassen lassen will. Immerhin sorgt Philipp Timme auch dank seiner sichtbar aufwändigen Kameraarbeit mit deutlich mehr Außenaufnahmen als in heimischen Krimis für viele schöne Barcelona-Bilder, und die Musik (Ingo Ludwig Frenzel) ist auch dank ihrer maurischen Untertöne hörenswert. Der Film ist übrigens im Frühjahr entstanden, als die Unabhängigkeitsbestrebungen noch kein konkretes Ziel hatten, aber Freydank und Timme lassen immer wieder die katalanische Flagge durchs Bild flattern.