Ein Mann springt über einen Zaun. Er scheint außer sich zu sein. Verzweiflung steht in seinem Blick. Kopflos sprintet er die Straße runter und rennt voll mit der Stirn gegen eine Mauer. Wie es dazu kommen konnte, dass dieser Mann, ein angesehener Anwalt, so durchdreht – das erzählt der spannende Fernsehfilm “Der Anwalt und sein Gast”. Es ist ein Psychothriller, bei dem hohe Ideale auf das vermeintlich Böse treffen. Die Werte vermischen sich, kehren sich um, die Gefühle sitzen direkt unter der Haut und am Ende ist nichts mehr so, wie es war.
Foto: SWR / Stephan Rabold
Christian Weller ist ein Strafverteidiger mit hohen Ansprüchen. Er ist ein Mann mit Moral. Er verteidigt nur Unschuldige oder Schuldige, die ihre Taten bereuen. Bei Karmann, der drei Frauen ermordet haben soll, ist er sich nicht sicher, ob dessen Unschuldsbekenntnis die Wahrheit ist. Die Beweislage aber ist dünn – und der etwas verschrobene Mann wird aus der Untersuchungshaft entlassen. Doch der weiß offensichtlich nicht, wohin. Und so steht er eines Tages vor Wellers Tür. Und mit freundlicher Dreistigkeit quartiert er sich in dessen schöner Villa ein. Dabei gelingt es ihm, das Herz von Wellers Ehefrau zu gewinnen. Durch ihn bekommt die an Depressionen leidende Frau wieder Lebensmut. Weller schaut sich dies eine Weile an, dann handelt er – und bedient sich plötzlich ziemlich unmoralischer Mittel.
Psychologisch ist nicht alles nachvollziehbar, filmisch aber bleibt dieses Drama eines schleichenden Verdachts mit jeder Wendung stimmig. Stimmungsvoll inszeniert hat es der deutsche Fernsehpreis-Gewinner Thorsten C. Fischer ohnehin. “Der Anwalt und sein Gast” ist ein streng komponiertes Kammerspiel mit Blick auf die Gesichter und mit einem exzellenten Sounddesign. Und es ist ein Film, bei dem man lange nicht weiß, ob hier der ungebetene Gast einen perfiden Plan verfolgt oder ob er nur als Katalysator einer kaputten Ehe fungiert.
“Der Anwalt und sein Gast” ist einmal mehr auch ein Zeugnis für die hohe Qualität deutscher Schauspieler. Da ist Heino Ferch, nach “Napoleon” und “Julius Caesar” endlich mal wieder in der Jetztzeit. Er nimmt sich physisch zurück, spielt bis auf die Anfangsszene und den ein oder anderen Wutausbruch mehr mit Kopf als mit Körper. Götz George, unlängst als Alzheimer-Patient in “Mein Vater” herausragend, zeigt auch als vermeintlich naiv-einfacher Zeitgenosse mit Pisspott-Haarschnitt und rustikalem Äußeren eine überragende Leistung. Gleiches gilt für Claudia Michelsen, die zuletzt Hartmut Schoens “Gefährliche Nähe” über weite Strecken trug und die unter Fischers Regie noch ein wenig leiser als gewohnt agiert. (Text-Stand: 2003)
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