Der Anfang von etwas

Weisse, Maurer, Klaschka, Lenz, Berger. Wunderwerk ästhetisch-narrativer Reduktion

Foto: ZDF / Georges Pauly
Foto Rainer Tittelbach

Ein Jahr, nachdem ihr Mann für tot erklärt wurde, ist sich eine Frau absolut sicher, dass er noch lebt. Mehrmals will sie ihn gesehen haben. Doch keiner glaubt ihr. Wünscht sie sich ihren Liebsten nur zurück, ist alles nur Einbildung? Oder weiß sie etwas, was ihre Vermutung bestärkt? „Der Anfang von etwas“ (ZDF / Network Movie), Thomas Bergers Verfilmung einer Erzählung von Siegfried Lenz, erzielt mit der einfachen Frage Lebt der Ehemann oder bildet sich die Frau alles nur ein? größtmögliche Wirkung, denn diese eine Frage zieht weitere spannende Fragen nach sich. Im Verlauf der gegenwärtigen Geschichte springt die Handlung immer wieder zurück in die alles andere als glückliche Beziehung der beiden. Retrospektiv betrachtet stimmen sowohl die Erzähl- als auch die Psycho-Logik. Und Ina Weisses Figur bestimmt nicht nur die Perspektive, sondern auch die filmische Tonlage. Der offene, sinnliche Blick der Schauspielerin korrespondiert mit der in viele Richtungen offenen Handlung.

„Es ist schwer zu akzeptieren, dass Menschen, die wir mal geliebt haben, irgendwann nicht mehr da sind.“ Anne (Ina Weisse) bekommt diesen und ähnliche Sätze immer wieder zu hören. Sie jedoch bezweifelt, dass sie überhaupt Witwe ist. Die Meteorologin, die im Seewetteramt Hamburg arbeitet, ist sich sicher, dass ihr Mann Harry (Juergen Maurer) lebt. Nach dem Untergang eines Containerschiffs, auf dem er als Ingenieur gearbeitet hat, wurde er für tot erklärt. Das ist jetzt genau ein Jahr her. Die Gedenkfeier zum Jahrestag reißt offenbar die alte Wunde wieder auf. Anne behauptet, Harry mehrfach gesehen zu haben – immer nur flüchtig oder im Halbdunkel der Nacht. Die Polizistin Inga Petersen (Franziska Hartmann) glaubt ihr nicht, sie hält sie vielmehr für eine etwas überspannte Person, die mit dem Verlust und dem Alleinsein nicht zurechtkommt. Anne hingegen ist immer überzeugter davon, dass ihr Mann noch lebt. Was, wenn er nicht an Bord war, das „Todesschiff“ am Neujahrsmorgen gar nicht betreten hat? Zwar gibt der einzige Überlebende an, Harry an jenem Morgen gesehen zu haben; aber der Kollege war und ist schwer traumatisiert. Wünscht sich Anne also ihren Liebsten nur zurück, ist alles nur Einbildung, Projektion ihrer Seele? Oder weiß sie etwas, was ihre Vermutung bestärkt, wovon sie der Polizei aber nichts erzählen will?

Der Anfang von etwasFoto: ZDF / Georges Pauly
Glückliche Zeiten. Doch das Paar hatte auch Probleme. Ina Weisse/Juergen Maurer in der Lenz-Verfilmung „Der Anfang von etwas“

„Der Anfang von etwas“, die Verfilmung einer Erzählung von Siegfried Lenz, erzielt mit der einfachen Frage Lebt der Ehemann oder ist alles Annes Einbildung? größtmögliche Wirkung, denn diese eine Frage zieht weitere Fragen nach sich. Wenn dieser Harry noch lebt, weshalb hat er sich nicht früher bei ihr gemeldet, und weshalb verfolgt er sie ausgerechnet jetzt, ein Jahr nach dem Schiffsunglück? Und warum geht die Heldin überhaupt zur Polizei? Wenn ihr Mann das Schiffsunglück genutzt haben sollte, um sich von ihr zu trennen und abzutauchen, was kann die Polizei dann ändern an ihrer möglichen Einsamkeit? Oder sucht sie die Hilfe des Staates, so die Polizistin, die den Fall betreut, weil sie bei sich eine Mitschuld vermutet und so eine Reinigung ihres Gewissens bezweckt. Im Verlauf der gegenwärtigen Geschichte springt die Handlung immer wieder zurück in die Liebesgeschichte der beiden. Wir sehen, wie sie sich kennenlernten, sie, die Nachdenkliche, er, die männliche Urkraft. Es ist kein Zufall, dass man das Paar mehrfach im Bett sieht: Sexuelle Anziehung ist das eine – aber zu viel Nähe kann auch schmerzhaft sein. Drehbuchautor Mathias Klaschka und Regisseur Thomas Berger zeigen Einblicke in Szenen einer Ehe, die nicht glücklich war. „Du wärst nie von ihm losgekommen“, sagt die Mutter von Anne (Gaby Dohm) einmal. Harry war unberechenbar, konnte zum Tier werden, wenn es um seine Liebste ging. „Wenn ich ihm draufkomme, dass er dich anfasst, schlag ich ihn tot“, diesen Satz darf der krankhaft Eifersüchtige im Film gleich zwei Mal sagen. Sein vermeintlicher Nebenbuhler ist Annes Chef Hendrik Evers (Johann von Bülow) – kultiviert, verständnisvoll, abwartend. Offenbar um herauszufinden, ob Harry noch lebt, schläft Anne mit Evers. Diese Heldin kann auch ziemlich egoistisch sein.

Aus den Puzzleteilen ergibt sich ein immer erschreckenderes Bild von dieser Ehe. An Festen wie Silvester läuten häufig die Todesglocken für Beziehungen. Irgendetwas muss in dieser Nacht vorgefallen sein. Glaubt die Heldin deshalb, dass ihr Mann noch lebt, weil so ihre mögliche Schuld eine nicht so tiefgreifende Konsequenz haben würde? Gab es vielleicht eine Schuld, die sich zwar nicht vor Gericht einklagen lässt, die aber persönliche Konsequenzen für das Paar forderten? Das spannende Spiel der Fragen und Thesen geht weiter. Zwischenzeitlich kann sich der Kritiker nicht recht vorstellen, wie es sich aus dieser Geschichte herauskommen lässt ohne einen faden Nachgeschmack. Umso überraschender, wie lebensklug und dramaturgisch präzise am Ende die Geschichte aufgelöst wird. Jede im Verlauf der Handlung gegebene Information ist am Ende von Belang, retrospektiv betrachtet stimmen sowohl die Erzähl- als auch die Psycho-Logik. Und es zeigt sich einmal mehr: Das Einfache ist oft das Beste. Gemeint ist aber nicht das Simple, das seinen Reiz im Gegensatz von Gut und Böse sucht. „Der Anfang von etwas“ erzählt von zwei Menschen, die sich gegenseitig nicht guttun. Das entspricht dem realistischen Menschenbild von Siegfried Lenz. Jeder hat Stärken und Schwächen, kann liebenswert, aber auch hassenswert sein – und die Interaktion entscheidet über Glück oder Unglück. „Lenz‘ Geschichten zeugen von einer großen Menschlichkeit“, findet auch Ina Weisse. „Sie handeln von Flucht, von Auflehnung, von Freundschaft und – wie in unserer Geschichte – von Verrat.“ Große Themen, aber wunderbar klein erzählt.

Der Anfang von etwasFoto: ZDF / Georges Pauly
Anne (Ina Weisse), ihr Schwager Sven (Hinnerk Schönemann) und die Suche nach Antworten.

Hauptdarstellerin Ina Weisse über die Frauen, die sie in den Lenz-Verfilmungen „Die Flut ist pünktlich“, „Der Verlust“ und nun in „Der Anfang von etwas“ verkörpert:
„Es sind einsame Menschen. Sie sind wortkarg, das Leben hat ihnen die Sprache verschlagen. Sie versuchen, mit ihren Niederlagen umzugehen, in sich gekehrt, undurchsichtig. Gereizt hat mich die Ambivalenz, die Zerrissenheit, die sie hinter ihrer Fassade verbergen, und ihre Schwächen.“

Mehr noch als die anderen ZDF-Verfilmungen Lenzscher Erzählungen wie „Die Flut ist pünktlich“, „Der Verlust“ (beide mit Weisse) und „Schweigeminute“ ist „Der Anfang von etwas“ ein Wunderwerk ästhetisch-narrativer Reduktion. Die weibliche Hauptfigur übernimmt nicht nur die Erzählperspektive, auch die (filmische) Tonlage wird vom Wesen jener Anne bestimmt. Ina Weisses offener Blick steht quasi für die anfangs in viele Richtungen offene Handlung. Immer wieder sieht man Anne, sich ihren Gedanken hingeben. Das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnt, bietet eine Aussicht in Richtung Hafen. Der Blick nach draußen erinnert sie also ständig an ihren Mann und wie er (möglicherweise) ums Leben gekommen ist. Im Schlussbild korrespondiert die Weite am Meer mit dem Blick der Hauptfigur. Das Bild bleibt einige Minuten stehen, sodass auch der Zuschauer die Möglichkeit bekommt, der Geschichte und ihrer „Lösung“ eine Weile entspannt nachzusinnen. (Text-Stand: 9.9.19)

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Ina Weisse, Juergen Maurer, Franziska Hartmann, Hinnerk Schönemann, Johann von Bülow, Gaby Dohm, Hansjürgen Hürrig, Natalia Rudziewicz, Johannes Klaußner, Catrin Striebeck, Mark Zak

Kamera: Frank Küpper

Szenenbild: Thorsten Lau

Kostüm: Natascha Curtius-Noss

Schnitt: Ilana Goldschnidt, Sanjeev Hathiramani

Musik: Christoph Zirngibl

Redaktion: Daniel Blum

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Mathias Klasch – nach dem Roman von Siegfried Lenz

Regie: Thomas Berger

Quote: 5,10 Mio. Zuschauer (16,3% MA)

EA: 03.10.2019 20:15 Uhr | ZDF

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