Endstation Sehnsucht. „Das Mädchen ohne Namen“
Die ersten Bilder zeigen einen Bus voller junger Frauen aus Osteuropa, alle mit erwartungsfrohen Gesichtern, dazu erklingt der Coldplay-Hit „Paradise“; doch selbst ohne Kenntnis der bisherigen „Amsterdam-Krimis“ ist klar, dass die Reise keineswegs ins gelobte Land, sondern geradewegs ins Verderben führt. „Das Mädchen ohne Namen“, der fünfte Film mit Hannes Jaenicke als deutscher Kommissar im Nachbarland, ist selbstredend kein Dokumentarfilm, aber Peter Kollers Drehbuch orientiert sich an den tatsächlichen Abläufen: Junge Frauen aus Osteuropa werden durch fingierte Stellenangebote in den Westen gelockt und landen in der Zwangsprostitution. Der Arbeitstitel des Krimis lautete „Endstation Freiheit“; „Endstation Sehnsucht“ hätte noch besser gepasst. Alex Pollack und sein niederländischer Kollege de Groot (Fedja van Huêt) wollen an den deutschen Menschenhändler ran, der das Bordell regelmäßig mit Nachschub versorgt. Weil es keinerlei Informationen über den Mann gibt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Etablissement zu beobachten, in dem Laila (Carina de Vroome) arbeitet; und zwar so lange, bis Zuhälter Zwolsmann (Mike Reus) eine neue „Lieferung“ erwartet.
Die bisherigen „Amsterdam-Krimis“ waren ausnahmslos fesselnde Thriller, aber Observierungen sind fast zwangsläufig Spannungskiller. „Das Mädchen ohne Namen“ ist daher nicht so packend wie die bisherigen Filme, selbst wenn Koller, bisher Autor aller Drehbücher für diese ARD-Donnerstagskrimi-Reihe, Laila zur zweiten Hauptfigur gemacht hat. Auf diese Weise muss Regisseur Ismail Sahin die Team-Mitglieder nicht ständig beim Zeittotschlagen zeigen, und die ausgebeuteten Frauen bekommen ein Gesicht. Einige Einschübe wecken zudem Mitgefühl: In Minsk wartet der kleine Sohn auf die Rückkehr der Mutter. Detailliert schildert Koller, wie perfekt das System funktioniert: Die Frauen bekommen falsche Papiere. Als Laila zur Polizei geht, macht ihr der Beamte klar, dass ihr mindestens sechs Monate Gefängnis drohen, denn dem Zuhälter wäre nichts nachzuweisen. Immerhin sieht Pollack einen Ansatz, um Zwolsmanns System zu knacken: Er gewinnt Laila als Informantin. Tatsächlich geht die Geschichte im Grunde nun erst richtig los, denn ab jetzt schwebt die Weißrussin in permanenter Lebensgefahr; an einer Kollegin hat Zwolsmann bereits ein tödliches Abschreckungsexempel statuiert. Erst im letzten Drittel zeigt sich jedoch, wie clever Koller sein Drehbuch konzipiert hat: Kurze Rückblenden sorgen für unerwartete Wendungen und setzen einige Ereignisse in ein ganz anderes Licht, zumal sich rausstellt, dass gleich mehrere Beteiligte wie in einem Spionage-Thriller ein doppeltes Spiel spielen.
Am Ende stolpert der Schurke über einen Pinguin. Der originelle Einfall ist dennoch nur ein schwacher Trost dafür, dass die Verantwortlichen die Rolle nicht angemessen prominent besetzt haben. Umso trefflicher war die Entscheidung für die Holländerin Carina de Vroome als weibliche Hauptdarstellerin. Die einzige kritische Anmerkung gilt der sprachlichen Vereinheitlichung: Die handelnden Personen stammen aus unterschiedlichsten Ländern, aber alle reden Deutsch, mal mit, mal ohne Akzent. Sahin hat 2014 mit seinem ungewöhnlichen Erstlinkswerk „Nicht schon wieder Rudi“ auf sich aufmerksam gemacht und die Degeto-Reihe „Mordkommission Istanbul“ mit dem spannenden Thriller „Entscheidung in Athen“ (2021) zu einem würdigen Abschluss gebracht. Für die auch diesmal wieder ausgezeichnete Bildgestaltung war schon damals Aljoscha Hennig verantwortlich. Sahins „Amsterdam“-Debüt spielt zwar größtenteils im Bordell und in der Wohnung, die das Team zur Observierung nutzt, aber es gibt auch einige schwungvoll umgesetzte Straßenszenen im Amsterdamer Stadtzentrum. Bei der Schilderung des erzwungenen Gehorsams ist der Regisseur nicht zimperlich, die Frauen hat er jedoch mit Respekt inszeniert: Sie sind zwar meist nur spärlich bekleidet, doch auf spekulative Bilder verzichtet der Film völlig.
Sklaven der Meere. „Der Tote aus dem Eis“
Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen des Filmemachens, dass Rückblenden nicht lügen dürfen; aber manchmal offenbaren sie nicht die ganze Wahrheit. Thomas Kirchner, Schöpfer der „Spreewaldkrimis“ im ZDF, hat diese Erzählweise fast zur Perfektion gebracht. Koller hat sich diesen dramaturgischen Trick schon in der ersten neuen Episode zunutze gemacht. Auch im zweiten Film sorgt der Österreicher auf diese Weise für einige verblüffende Aha-Effekte, und das diesmal schon gleich zu Beginn. Die Auftaktszene wird gleich mehrfach wiederholt, weil ein neuer Blickwinkel andere Details offenbart oder weil die Fortsetzung der Szene dafür sorgt, dass sich die Handlung in eine unerwartete Richtung entwickelt.
„Der Tote aus dem Eis“ beginnt mit einem zurückgenommenen Zugriff: Pollack hat sich undercover in ein Fischereiunternehmen eingeschleust, um einen Reeder als Kokain-Schmuggler überführen. Kaum hat er das vereinbarte Zeichen zum Zugriff gegeben, bläst er den Einsatz auch schon wieder ab. Den Grund dafür reicht der Film erst später nach: Zwischen den Fischen, in deren Bäuchen die Päckchen mit dem Rauschgift verborgen sind, hat sich ein Seemann versteckt; Pollack hat die Einheit zurückgepfiffen, um ihn nicht zu gefährden. Einen Toten gibt es dennoch, und der führt die Ermittler auf die Spur eines anderen Verbrechens.
Mit seiner ZDF-Reihe „Im Einsatz für…“ hat sich Jaenicke einen Ruf als prominenter Tierschützer erworben. Als es in einer der letzten Folgen um den Lachs ging, sagte er: „Wir entnehmen dem Meer alles und geben lediglich unseren Dreck zurück. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.“ Dieser Satz könnte auch im sechsten „Amsterdam-Krimi“ fallen: Der Tote aus dem Frachtraum ist einem Umweltdelikt auf die Spur gekommen. Seine Entdeckung musste er mit dem Leben bezahlen, aber vorher hat er das Vergehen dokumentiert, und das entsprechende Video wird nun zum Motor der Handlung: weil alle den Mann jagen, der es besitzt, die Polizei ebenso wie die Verbrecher. Koller hat sich für diese Figur durch Jackie Chan inspirieren lassen, und tatsächlich entpuppt sich der junge Indonesier mit dem für westliche Ohren originellen Namen Joyo Suparman als unkaputtbares Stehaufmännchen, das allen immer wieder ein Schnippchen schlägt. Vietha Luong, Österreicher mit vietnamesischen Wurzeln, ist eine echte Entdeckung und hat zudem einige witzige Szenen, aber der Film bleibt trotz dieser Momente durchgängig ein Thriller, zumal eine dritte Partei ins Spiel kommt: Meeresschützerin Elise (June Yanez) will das Video nutzen, um dem deutschen Fischhändler Schröder (Marcel Hensema) eine großzügige „Spende“ zu entlocken, kommt dadurch aber ungewollt dem Rauschgifthändler im Hintergrund in die Quere; und der geht über Leichen.
Mit dem Drogenschmuggel und den Verstößen gegen die Fischereigesetze geht es in „Der Tote aus dem Eis“ um ganz andere Themen als in „Das Mädchen ohne Namen“, aber eine Parallele gibt es doch: In beiden Drehbüchern setzt sich Koller mit modernen Formen der Sklaverei auseinander; der Arbeitstitel des zweiten Films lautete „Sklaven der Meere“. Dank der deutlich häufigeren Schauplatzwechsel wirkt die Inszenierung Sahins diesmal wesentlich flotter, zumal die verschiedenen Fluchten Joyos mehrfach für Tempo sorgen. Die Bild-Gestaltung (erneut Hennig) ist ohnehin ein Qualitätsmerkmal der Reihe; gleiches gilt für die Arbeit von Andreas Helmle, der bislang zu allen „Amsterdam-Krimis“ die Musik komponiert hat. Neu ist hingegen der gelegentliche Humor, der den Filmen gut tut. Die Mitglieder des Teams, das auch darstellerisch immer besser miteinander harmoniert, frotzeln sich häufiger als früher, und Jaenicke darf, als er wieder mal hinter Joyo her rennen muss, gleich zweimal den Lieblingssatz aller alternder Actionhelden sagen: „Ich bin zu alt für so ’ne Scheiße.“