Die 17-jährige Nathalie (Mühe) ist anders als ihre Klassenkameraden. Sie kleidet sich weniger modisch, liest lieber Schiller oder Goethe als moderne Jugendliteratur und hält Tanzen für Sünde. Wohlbehütet wächst sie im Schoße einer Sekte auf. Als ihr Stiefvater (Finzi) eine Stelle als Anwalt der Glaubensgemeinschaft „Kirche des Herren“ in Berlin annimmt, heißt das für Nathalie: raus aus der Geborgenheit ihrer süddeutschen Nonnenschule, rein in den großstädtischen Teenageralltag mit all seinen Versuchungen. Anfangs blockt sie jeden Kontakt außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft ab. Doch ein Mitschüler (Mewes) lässt nicht locker – und als sie die von der Gemeinde frustrierte Sibille (Rogall) näher kennen lernt, kommen Nathalies religiösen Überzeugungen ins Wanken. Sie spürt, dass ihr die „Kirche des Herren“ nicht nur etwas gibt, sondern auch Möglichkeiten zur Lebensfreude nimmt.
Sekten sind ein Thema für Krimi und Thriller. Da werden Schwarze Messen abgehalten, da fließt reichlich Blut, und „Rosemaries Baby“ lässt grausig grüßen. In „Delphinsommer“ wird auf Dämonisierung verzichtet. Anfangs wird die Welt, in der die Heldin aufwächst, liebevoll gezeichnet. Regisseur Jobst Christian Oetzmann wollte „den Zuschauer verstehen lassen, was diese Menschen miteinander verbindet“. Doch diese Gemeinschaft hat Grenzen der Toleranz. Die zeigen sich, als Nathalie beginnt, sich eigene Gedanken über das Leben zu machen. Züchtigung und Isolation sollen die „Irregeleitete“ auf den Weg Gottes zurückführen.
Der Film überzeugt durch seine konsequente Binnenperspektive. Jede Verschiebung in der Kommunikation zwischen dem System „Sekte“ und dem behüteten, ohnmächtigen Einzelnen wird genauestens registriert. Aus der Sicht der Heldin. „Ihre Emotion ist wichtig, ihre Blicke kommentieren alles Geschehene und sollen den Zuschauer mit auf die Reise in ihre Welt nehmen“, so Grimme-Preisträger Oetzmann. Es ist eine Reise in die Dunkelheit, eine mythische Prüfung, die die Postpubertierende abzulegen hat. Die Autorin Regine Bielefeldt, bislang vor allem im Serienfach tätig, will die Geschichte keinesfalls nur als Sekten-Story verstanden wissen. „Es geht ganz allgemein um den Ablösungsprozess einer Heranwachsenden von der Familie, von den Idealen und Prinzipien der Menschen, mit denen das Mädchen die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat.“
„Delphinsommer“ ist ein Film, der einem in Erinnerung bleiben wird. Vor allem die Gesichter, die Volker Tittels Kamera wirkungsvoll, aber nie prätentiös einfängt, machen den Film zu einem Ereignis. Anna Maria Mühe, die Tochter von Ulrich Mühe und Susanne Lothar, meistert ihre schwierige Rolle ebenso bravourös wie die beiden anderen Jungdarsteller, Sophie Rogall und Tino Mewes, die seit ihrem gemeinsamen Debüt „Fickende Fische“ mehrfach auf sich aufmerksam machten. Auch die Darsteller der erwachsenen Gläubigen, Samuel Finzi und Birge Schade, treffen stets den richtigen Ton, um das Sekten-Drama in keiner Sekunde zur melodramatischen Räuberpistole werden zu lassen. (Text-Stand: 5.4.2005)