Decision Game

Meckbach, Lacher, Wiesnekker, Lackner, Pfohl. Ein Wettrennen, das im Kopf stattfindet

Foto: ZDF / Stanislav Honzik
Foto Martina Kalweit

Vera denkt voraus. Für einen weltweit operierenden Versicherungskonzern berechnet die Analystin Risiken im globalen Wirtschaftsverkehr. Ihr Mann ist als Polizist dort im Einsatz, wo meist schon alles zu spät ist. Sie ist das Hirn, er die Faust: Grundsätzlich eine Spitzen-Kombi, um die Entführer der eigenen Tochter in den Griff zu bekommen. Die aber stellen seltsame Forderungen, schweigen über ihre Motive und kennen das Trauma ihrer Opfer. Auf dieser Basis entwickelt sich „Decision Game“ (ZDF / Odeon Fiction) zu einem Psycho-Krieg, in dem bald jeder jeden erpresst und zusätzliche Mitspieler neue Unwägbarkeiten ins Spiel bringen. Die Dramaturgie variiert das bekannte Muster über sechs Folgen, hält die Spannung, strapaziert aber auch mit der ein paar überdrehten Wendung. Eva Meckbach trägt als Vera souverän über die gesamte Strecke. Andere Figuren sind weniger wandelbar angelegt.

In der Auftaktfolge „Risk“ lernt der Zuschauer zwei Gesichter einer Frau kennen. Vor der Entführung ihrer Tochter ist Vera (Eva Meckbach) deren beste Vertraute. Aus jeder ihrer Gesten spricht Liebe und Stolz. Die Gespräche zwischen Mutter und Tochter (Paula Hartmann) haben nichts Zickiges, dafür viel Witz. Das Gesicht von Vera ist ein offenes Buch. Das ändert sich, als der Schrecken sie einholt. Als Vera realisiert, dass nur sie den Schlüssel zu Elsas Rettung in der Hand hält, kehrt sich ihr Blick nach innen. So dynamisch die Kamera sie im Moment dieser Erkenntnis umkreist, so gnadenlos verfestigen sich ihre Züge. Beherrscht und konzentriert. Mit dieser Prämisse versucht Vera von nun an, die Entführer zu durchschauen. Schnell wird klar, dass sie diesen Weg allein gehen muss. Das macht einen Großteil der Spannung und die Faszination der Figur aus. Den Menschen in Veras Umfeld gesteht das Drehbuch (Johannes Lackner) weniger Wandelbarkeit zu. Ärgerlich ist das vor allem im Falle ihres Mannes Alex (Shenja Lacher), der seine erfolglosen Alleingänge regelmäßig mit dem gleichen, wütend herausgeschrienen „Fuck“ beendet – was wenig überzeugt. Schade auch, dass Aljoscha Stadelmann in der Rolle von Alex Kollegen Rainer und Freund der Familie nur ein kurzes Gastspiel gibt. Dazwischen äugen Veras Kollegen im „Regional Risk Office“ als potenzielle Mitwisser der einen oder der anderen Seite durch gläserne Bürowände. Mit reduziertem Spiel sticht am Ende Robert Hunger Bühler aus dem Ensemble heraus. Als Veras Ex-Professor Thalmann bleibt der Part des genialen Risikoberechners lange undurchsichtig. Wie im Kino („Unter dir die Stadt“, 2010) oder in seinen bisherigen Tatort-Rollen (z.B. der Stuttgarter Fall „Tatort – Der Preis des Lebens“, 2015) ist Hunger-Bühler in der Rolle des großen Unbekannten auch hier ein Gewinn.

Decision GameFoto: ZDF / Stanislav Honzik
Der Entführten kommt mehr als die typische Opferrolle zu. Elsa (Paula Hartmann) versucht zu flüchten. Doch das Tageslicht macht ihr nach der Gefangenschaft im Dunkeln einen Strich durch die Rechnung. Geiselnehmer fürs Grobe (Jakob Diehl)

Auf der Gegenseite warten die Entführer und ein ähnliches Konstrukt wie bei dem Paar Vera und Alex. Als Hirn der Operation verhandelt Erpresser Robert (Roeland Wiesnekker) mit Vera. Die beiden Gegner sind immer auf Augenhöhe. Seinen Respekt für Vera kann Robert nicht verhehlen. Zwischen allen Rachegedanken, Drohungen und Erpressungsversuchen schwingt die Nähe zwischen den beiden Taktikern immer mit. Während ihrer Chats geht die Kamera auf beiden Seiten immer ganz nah ran. Zwei Menschen, die versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Zwei Gesichter, deren Mimik ausdrückt, wie es hinter der Stirn arbeitet. Roberts psychisch labilen Partner Mark bringt dessen Respekt für Vera allerdings noch mehr auf Zinne. Jakob Diehl spielt den Psycho wie man Psychos eben spielt: Er geht wütend im Quadrat, ringt um Fassung, schreit seine Wut raus und stiert seinem Boss mit vorwurfsvollem Blick in die Augen. Die Kamera ist spätestens dann auch nah dran. Der Effekt aber gegenteilig: Man fragt sich, ob es nicht spannender wäre, dieser Mensch käme mal zur Ruhe.

Ruhe ist das Zauberwort erfolgreicher Verhandlungen. Sie führt Vera zu der Erkenntnis, dass Elsas Entführer auf ihre Expertise angewiesen sind. Dreht sie durch, wird alles sinnlos. In Episode 2 „High“ spielt Vera diesen Trumpf aus und dreht das Kräftemessen in die Höhe. Dass es den Entführern auch um persönliche Rache geht, offenbart Episode 3 „Crash“ mit einer akustischen Rückblende. Episode 4 „Slam“ konzentriert sich auf Tochter Elsa. Dank diverser Rückblenden bringt Paula Hartmann von Beginn an mehr Format mit als für die bloße Geisel-Rolle nötig wäre. In der vorletzten Folge „Win Win“ rückt Professor Thalmann in den Fokus. Die Abschlussfolge „Dilemma“ treibt dann auf einen Countdown und einen Schauplatz zu, der das Trauma um den Unfalltod von Elsas Zwillingsschwester mit dem zukünftigen Schicksal der Überlebenden verknüpft. Während der große Erzählbogen funktioniert, stockt es mit der Logik im Detail. So stimmen die Entführer in Episode 4 einem öffentlichen Auftritt von Elsa zu, um eine Großfahndung zu vermeiden. Schwer vorstellbar, dass eine so taff agierende Frau, das nicht nutzen kann, um ihr Kind endgültig zu befreien. Zu salopp und unkommentiert erscheinen auch die Szenen, in denen die Kidnapper mal als Sanitäter, mal als Sprengexperten unerkannt in fremde Gefilde eindringen und ungestört ihr Ding durchziehen.

Decision GameFoto: ZDF / Stanislav Honzik
Das Hirn der Operation: Der charismatische Erpresser Robert (Roeland Wiesnekker) ist mit der Heldin auf Augenhöe.

Der Weg, der die verzweifelte Vera durch diesen Nervenkrieg führt, kristallisiert sich in „Decision Game“ in einem inzwischen schon ikonografischen Bild des Crime-Genre. Längst ist dieses Bild bis in den Vorabend der SOKOS durchgesickert. Wie einst Matthew McConaughey in „True Detective“ in einem eigens dafür angemieteten Lagerraum versucht, ungelöste Sexualmorde anhand gesammelter Fotos, Zeichnungen, Masken und Objekte zu lösen, so steht auch Vera in stillen Momenten vor ihrer „crazy wall“. Ein an die Tafel gemaltes Labyrinth an Berechnungen, Pfeilen und Symbolen soll das Risiko des nächsten Schachzugs visualisieren. Zu genau darf man allerdings nicht hinschauen. Zwischen „wir“ und „sie“, zwischen Rechnungen mit Unbekannten, zwischen Fragezeichen und der umgedrehten Acht für Unendlichkeit offenbart sich dem Zuschauer auf diesem Tableau kein wirklich logischer Gedankengang. Im Gegenteil: Gerade, weil die Figur Vera in ihrer kontrollierten Nüchternheit überzeugt, wirken die Zeichen an der Wand (wie Lippenstift auf Glas oder Fingerschlieren auf einer beschlagenen Windschutzscheibe) etwas albern. Es hat wohl seinen Grund, dass die schönsten „crazy walls“ inzwischen aus Filmen stammen, die dieses Icon parodieren – wie bei der Bärensuche in „Paddington 2“ oder in „School of Rock“, wo Jack Black auf seiner „crazy wall“ die Einflüsse von AC/DC auf die Nachwelt des Rock veranschaulicht.

Neben dem Innehalten vor der „crazy wall“ setzt die Dramaturgie von „Decision Game“ auf den Einsatz des Tons, eine agile Kamera und gelungene Cliffhanger am Ende jeder Episode. Der an und abschwellende Sound durchweht die Szenen der Auftaktfolge inflationär, wird aber im Verlauf der Story etwas abgedimmt. Eine bewegliche Kamera und Kreisfahrten spiegeln bzw. fokussieren die Nervosität von Vera und Alex. Pure Action-Szenen sind selten. Ein visuell wenig überzeugender Faustkampf in der Auftaktfolge zeigt dieselbe Sequenz zweimal aneinandergeschnitten. Dem aufmerksamen Zuschauer dürfte da aber auch längst klar sein, dass es in „Decision Game“ nicht um Verfolgungsjagden und physisch ausgefochtene Zweikämpfe geht. Das Wettrennen gegen die Zeit findet im Kopf statt. Im Kopf der Strategin Vera, die mit einem Tastendruck bestimmt, wie sich die politische Lage in einem Land wie Burundi verändert, und dem Söldner Robert, der ihr auf die denkbar dramatischste Art die Konsequenzen ihres Jobs vor Augen führt. Nach viereinhalb Stunden Sendezeit gehört ihnen und der Aussicht auf eine gegenseitige Wiedergutmachung die letzte Spielszene. Danach sehen wir Zeichen an der Wand. Da steht aber noch nichts von einer zweiten Staffel.

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Mit Eva Meckbach, Shenja Lacher, Roeland Wiesnekker, Jakob Diehl, Paula Hartmann, Robert Hunger-Bühler, Aljosha Stadelmann, Cynthia Micas, Doguhan Kabadayi, Lion-Russell Baumann

Kamera: Martin L. Ludwig

Szenenbild: Fryderyk Swierczynski

Kostüm: Lena Nienaber

Schnitt: Robert Stuprich, Manuela Kempf, Alexander Menkö

Musik: Anna Kühlein

Soundtrack: Massive Attack („Angel“)

Redaktion: Michelle Rohmann, Elke Müller (ZDF), Christiane Meyer zur Capellen (ZDF neo)

Produktionsfirma: Odeon Fiction

Produktion: Alban Rehnitz

Drehbuch: Johannes Lackner

Regie: Benjamin Pfohl

EA: 26.08.2022 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

weitere EA: ab 06.09.2022 20:15 Uhr | ZDFneo

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