Die „wahren Begebenheiten“, die diesem Film zugrunde liegen, wie es im Vorspann heißt, sind schier unglaublich: Während der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse wurden Zeugen gemeinsam in einer von den Amerikanern beschlagnahmten Fabrikanten-Villa untergebracht. Kurz nach dem Krieg lebten Nazis und Nazi-Gegner zeitweise unter einem Dach, begegneten sich ehemalige KZ-Häftlinge, Mitläufer und Täter auf den Fluren und beim Essen. Die Journalistin Christiane Kohl berichtete bereits 1996 in einem Artikel für den „Spiegel“ darüber, knapp zehn Jahre später erschien ihr Buch „Das Zeugenhaus“. Mit Autor Magnus Vattrodt und Regisseur Matti Geschonneck haben sich zwei der profiliertesten Film-Kreativen in Deutschland des Stoffs angenommen. Und wieder ist – ähnlich wie bei dem preisgekrönten Film „Liebesjahre“ – aus ihrer Zusammenarbeit ein dichtes Kammerspiel mit geschliffenen Dialogen entstanden. Das ZDF gewährte die ungewöhnliche Sendezeit von 106 Minuten.
Foto: ZDF / Daniela Incoronato
Hunderte seien in dem Zeugenhaus aus und ein gegangen, „das ist im fiktionalen Erzählen nicht zu bewältigen und dramatisch auch gar nicht sinnvoll“, sagt Drehbuchautor Vattrodt. „Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, aus den Fakten ein Destillat herzustellen, die historische Geschichte zu verdichten und in dieser Form letztlich auch erkennbar zu machen.“ Soll heißen: Die acht Zeugen, die hier aufeinander stoßen, sind zwar reale Figuren, haben aber in dieser Konstellation nicht in dem Haus zusammen gelebt.
Geschonnecks Regie und Judith Kaufmanns Kamera entfalten eine gediegene, gutbürgerliche Atmosphäre. Die Holzdielen knarren, das Licht ist gedämpft, und auf jeder Figur im Zeugenhaus lastet schwer die Vergangenheit. Die bleibt jedoch weitgehend „unsichtbar“. Nur selten verlässt die Inszenierung das Haus, es gibt keine Rückblenden, nur die „Wochenschau“-Bilder von der Befreiung des KZ Buchenwald baut Geschonneck irgendwann ein. Der Tonfall der Dialoge ist dennoch leicht, zum Teil komödiantisch – umso abstoßender wirkt die Verdrängungshaltung, die sich hinter manch flapsiger Bemerkung verbirgt. Als Zuschauer gerät man von Beginn an in die Rolle eines Richters oder Anwalts. Man fragt sich beständig: Was hat dieser auf dem Kerbholz? Ist jener Opfer oder Täter? Geschickt werden die Biographien – und Abgründe – der Figuren erst nach und nach enthüllt, was einen nicht unerheblichen Teil der Spannung ausmacht. Neben den spannungsreichen Begegnungen von Tätern und Opfern. Stark, dass in den Dialogen moralische Aussagen meist vermieden, Bewertungen über Schuld und juristische Gerechtigkeit dem Publikum überlassen werden.
Foto: ZDF / Daniela Incoronato
Die Vielzahl der Figuren in diesem Kammerspiel macht es unmöglich, sich intensiv mit einzelnen Biographien zu beschäftigen. Historische Zusammenhänge und Hintergründe bleiben unscharf. Doch Vattrodts „Destillat“ wird von einem ausgesuchten Ensemble verkörpert, dem unter Geschonnecks Regie auch wenige Szenen genügen, um Charakteren Statur zu geben: Da ist Udo Samel als Heinrich Hoffmann, eine Stimmungskanone und ein emsiger Schwarzmarkt-Händler, nicht unsympathisch – bis der ehemalige Leibfotograf Hitlers vom Führer zu schwärmen beginnt. Seine Tochter Henriette, genannt Henny, ist ebenfalls anwesend, von Rosalie Thomass beängstigend naiv und arrogant gespielt. Sie bangt um das Schicksal ihres Gatten Baldur von Schirach, des NS-Reichsjugendführers und Statthalters von Wien, der in Nürnberg auf der Anklagebank sitzt. Gisela Limberger war Hermann Görings Privatsekretärin und unterhält die Runde mit sarkastischen Bemerkungen wie: „Die Alliierten halten uns sowieso alle für Verbrecher. Warum sonst sollten sie uns mit dieser Erdnuss-Schmiere bestrafen?“ Eine Paraderolle für Gisela Schneeberger. Matthias Matschke wiederum ist der immerzu aufgeregte und hektische Herr Ross, der sich für völlig fehl am Platz hält, Edgar Selge der nicht minder rätselhafte, beharrlich schweigende Herr Gärtner, der manisch Holz hackt. Matthias Brandt gibt den von Gewissensbissen geplagten Generalmajor Erwin Lahousen, Vicky Krieps die Französin Marie-Claude Vaillant-Couturier, die sich als Dolmetscherin vorstellt, aber alles andere als eine „französische Tippse“ (Henny) ist. Fehlt noch Tobias Moretti als Rudolf Diels. Der Gestapo-Gründer, der später seinen Posten verlor, wird eines Nachts heimlich ins Haus gebracht und erst einmal ins Zimmer eingeschlossen. Moretti spielt den Frauenheld mit Schmiss an der Wange als schmierig-galanten Wendehals.
Foto: ZDF / Daniela Incoronato
Der beginnende Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wird im Haus übers Radio verfolgt. Einige aus dem Zeugenhaus sagen aus, andere nicht. Geschonneck inszeniert auch den Prozess nicht, verwendet jedoch „Wochenschau“-Bilder, in denen die Schauspieler die realen Figuren ersetzen. Ähnlich verfährt er bei den O-Tönen aus dem Radio. Dennoch bleibt vieles offen, wird etwa der weitere Werdegang der Figuren im Abspann nicht erläutert. Hier verlässt man sich ein bisschen zu sehr auf die anschließend angesetzte Dokumentation. Die größte Freiheit, die sich die Produktion nimmt, betrifft die Figur der Gräfin Belavar, die von Iris Berben gespielt wird. Was man schon daran erkennt, dass dieser Film-Name ausnahmsweise nicht mit dem Namen der Originalfigur (Kalnoky) übereinstimmt. Die Gräfin wird von den Amerikanern angeheuert, um als Gastgeberin die illustre Gesellschaft bei Laune zu halten und auch auszuspionieren. Eine Dame mit Stil und aristokratischen Manieren. Wesentlich ist nicht so sehr, dass Gräfin Kalnoky damals eigentlich eine Mittdreißigerin war, sondern dass aus der Gräfin im Film eine gebrochene, drogensüchtige Frau wird, der eine Familientragödie angedichtet wird. Entsprechend niedergedrückt bewegt sich Iris Berben durch diesen Film.
Offenbar wurde dem Publikumsliebling hier in der Berbenschen „Familienproduktion“ – Produzent ist Oliver Berben – eine zentrale (Opfer-)Rolle auf den Leib geschrieben, ernster und letztlich bedeutender, als es das Original hergab. Das ist zwar nicht sehr überraschend, aber schmälert doch das Vergnügen doch ein wenig. Vor allem am Ende, wenn die Umstände der Familientragödie erläutert werden. Daraus wird eine unglückliche Konstruktion, die das vorherige Spiel um Schuld und Versagen nebulös relativiert. Da mache es „keinen Unterschied“, wie die aus Ungarn stammende Gräfin sagt, ob Deutsche, Russen, Bauern oder Banditen die Täter gewesen seien. Man selbst habe zu lange gewartet. „Ich dachte, unsere Welt würde verschont, aber das war ein Irrtum.“ So wird dem Film ohne ersichtlichen Grund noch das Thema Untergang der Aristokratie aufgezwungen. (Text-Stand: 28.10.2014)