Geladene Stimmung am Checkpoint Charlie. Es ist die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. Verunsicherte Blicke diesseits und jenseits des Schlagbaums. Kurz zuvor hatte Politbüro-Mitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz die Öffnung der DDR-Grenzen als „Übergangsregelung bis zum Erlass eines neuen Reisegesetzes“ mitgeteilt. Tausende Ost-Berliner wollen das Gesagte in der Praxis erproben. Doch die NVA-Soldaten hatten offenbar keinen Befehl zur Grenzöffnung bekommen. Ein banger Moment. Schießen? Schießen auf die eigenen Leute, die man beschützen und verteidigen sollte? Es fließt kein Blut in jener historischen Nacht. Statt dessen Tränen der Freude. Ein Volk liegt sich in den Armen. Die Maueröffnung gehört zu den ergreifendsten Momenten deutscher Geschichte.
Es hätte auch anders kommen können. Viele der Soldaten, die Anfang November in die Hauptstadt der DDR versetzt wurden, waren wochenlang von der Außenwelt abgeschlossen. Ihnen war etwas von bürgerkriegsähnlichen Zuständen berichtet worden. Mehr wussten sie nicht. Einer von ihnen war der 20-jährige Tilo Koch, der gerade seinen Wehrdienst ableistete. Er sah jene „Minute der Wiedervereinigung“ mit anderen Augen. „In der Abenddämmerung des 9. November wälzte sich ein unüberschaubares Menschenheer auf den Checkpoint Charlie zu. Sie kamen von Ost & West. Wir waren eingekesselt, aber zu allem bereit.“ Gerade noch wurden die Soldaten von ihren Vorgesetzten angewiesen, radikal gegen den „Mob“ vorzugehen. Plötzlich sollten sie den Schlagbaum öffnen. „Wir fühlten uns im Stich gelassen.“
Foto: ZDF / Stephan Rabold
Tilo Koch war einer, der sich 1989 als Verlierer der politischen Umstände fühlte. Er hat lange gebraucht, bis er in der Bundesrepublik angekommen ist. Die Verfilmung seiner Jugendjahre im Spiegel der Wiedervereinigung dürften ihn endgültig mit der Geschichte versöhnt haben. „Das Wunder von Berlin“ erzählt von seiner Wandlung vom Punker zum strammen NVA-Soldaten, vom Bierflaschen-Revoluzzer zum Sozialismus-Fan. Erzählt wird aus ostdeutscher Sicht, aber Marco Kaiser, wie Tilo Koch im Film umbenannt wurde, gibt nicht allein die Blickrichtung vor. „Geschichte als Zusammenklang vieler individueller Geschichten“, war des Produzenten Nico Hofmanns erklärtes Ziel. Das Ergebnis ist ein Ensemblefilm, der die verschiedensten Themen und Fragen, Haltungen und Perspektiven in 105 Minuten zusammenfasst. Autor Thomas Kirchner erzählt die letzten Monate der DDR als Familiengeschichte – über drei Generationen. Das öffnet den Blick für historische Linien von Stalingrad bis Stasi, von Auschwitz bis Bautzen. Was er erzählt, das sei teilweise selbst erlebt, teils habe er es erzählt bekommen, teils habe er es erfunden aus Bekanntem, aus Geahntem.
Kaleidoskopisch lässt der Autor im Mikrokosmos der Familie Kaiser die DDR-Gesellschaft durchschimmern. Da ist zunächst Marcos frustrierte Mutter Hanna, gespielt von Veronica Ferres. „Es muss viele Hannas gegeben haben in den letzten Jahren der DDR“, ahnt die Schauspielerin, „viele, die wie sie früher an die Ideale der SED-Ideologie geglaubt haben, an Gleichheit und Wohlstand für alle, die aber festgestellt haben, dass wenig oder nichts davon in der DDR Wirklichkeit geworden ist.“ An ihrer Seite steht, zunehmend geduckt, ihr Mann Jürgen. Aus Opposition zu seinem Vater ist er der SED beigetreten und hat bei der Stasi Karriere gemacht. „Seine Tragik liegt darin, dass er dabei ist, die Fehler seines Vaters zu wiederholen, es aber nicht begreift“, betont sein Darsteller Heino Ferch. Für Walters Sohn Marco ist dieser Ausbund eines Spießers Feindbild, wie es sein Vater für ihn war. Diesen Großvater Kaiser spielt Michael Gwisdek wunderbar launig als komischen Alten, der den DDR-Oberen am liebsten verbal die lange Nase zeigt. Für Gwisdek eine Rolle gegen ein weit verbreitetes Klischee über den Osten: „Meine Figur zeigt, dass es in der DDR lebenslustige Menschen gab und dass die Menschen nicht immer alles nur dramatisch gesehen haben.“ Mit Opa am besten versteht sich Anja, „die Kleene“ von Marco. Bei einem illegalen Punkkonzert haben sie sich kennen und lieben gelernt und mittlerweile gehört sie quasi mit zur Familie. Auch wenn Vater Kaiser, der vermutet, dass sie als Spitzel auf ihn angesetzt sei, ihr zwischenzeitlich die Tür weist. Shooting-Star Karoline Herfurth spielt das ehemalige Heimkind, das sich sehnt nach einem Platz, wo es hingehört, wunderbar leise & beiläufig. Wie auch Marco-Darsteller Kostja Ullmann macht sie sich gut im Konzert der großen Namen.
Foto: ZDF / Stephan Rabold
Die ganze DDR lässt sich nicht in einer einzigen Familie darstellen. Also erweiterte der Autor das Personal. Da ist beispielsweise noch Gesine Cukrowskis Stasi-Geliebte, attraktiver Wendehals, der mit Informationen persönliche Politik macht. Auch des Helden väterlicher Vorgesetzter bei der NVA kommt eine unrühmliche Rolle zu: Die von André Hennicke markig gespielte Figur verweist auf eine gängige DDR-Praxis, in der die Kinder von Eltern, die in Ungnade gefallen waren, getrennt wurden. Aber auch die andere Seite der DDR-Gesellschaft hat seine Nebenfiguren: Anna Loos und Hermann Beyer spielen zwei Aktivisten des Neuen Forums, das die demokratische Umgestaltung der DDR im Auge hatte. Thomas Kirchner, 1961 in Berlin Ost geboren und zuletzt aufgefallen durch das vielschichtige Vergangenheitsbewältigungsdrama „Das Geheimnis im Moor“, hat viel in die Geschichte hineingepackt. Dass sie nicht überfrachtet wirkt, spricht für ihn, das Schauspieler-Ensemble und für Roland Suso Richter, der – anders als in „Dresden“ – hier leisere, intimere Töne anschlagen durfte. „Ich wollte einen schnell erzählten Ensemblefilm machen, der mit der Kamera und dem Schnitt dicht an den Figuren bleibt. Ein moderner Film, der ins Herz trifft.“
Dass das ZDF „Das Wunder von Berlin“ zu einem Einzelstück machte, war eine gute Entscheidung. Dramaturgische Überhöhungen und eine auf Liebesbeziehungen fokussierte Historie fallen, in epischer Breite eines Event-Zweiteilers dargeboten, eher unter Seifenoper-Verdacht als ein dramatisch gestrafftes und ästhetisch zugespitztes Einzelstück. Die Macher hatten die Absicht, möglichst viel über die DDR der Jahre 1989/99 in die Story einzubauen. Dadurch ist der Film, der die Berliner Verbrüderungsszenen vom 9. und 10. November 1989 nicht überstrapaziert, auch bestens geeignet als Film für junge Leute, die mit der DDR nichts und mit dem Mauerfall wenig verbindet. Eine Programmzeitschrift schrieb denn auch, der Film wirke „mitunter wie emotional aufgeschäumter Staatsbürgerkunde-Unterricht“. Dass er dabei bestens unterhält, ohne das übliche Täter-Opfer-Schema auskommt und auch an die erinnert, „die mit dem Ende der DDR selbst zusammengebrochen sind“, so Autor Kirchner, macht diesen Film über eine (nicht) ganz durchschnittliche DDR-Familie zu einem überdurchschnittlichen Film über die DDR und den Mauerfall. (Text-Stand: 27.1.2008)