Das Wichtigste im Leben

Vogel, Lamprecht, Nawrath, Kropf, Franzen, Lackmann, Bühling. Diese Fankhausers

Foto: Vox / Martin Rottenkolber
Foto Tilmann P. Gangloff

Ausgerechnet Privatsender Vox sorgt für ein Comeback der klassischen Familienserie. Auffälligstes Merkmal von „Das Wichtigste im Leben“ (Bantry Bay) ist die Multiperspektivität: Anders als die meisten Klassiker von ARD und ZDF behandeln die einzelnen Episoden die fünf Mitglieder der Familie gleichwertig; die drei Kinder bekommen sogar fast mehr Raum als die Eltern. Serienschöpfer Richard Kropf verzichtet zudem aufs große Drama und erzählt stattdessen Alltagsgeschichten, in denen sich Zuschauer aller Altersgruppen wiederfinden können. Gerade die jungen Mitwirkenden sind ausgezeichnet geführt, wobei Bianca Nawrath aus dem klug zusammengestellten Ensemble herausragt. Sehr sympathisch sind auch der beiläufige Humor & die generelle Unaufgeregtheit der Serie.

Komödie ist Geschmacksache, aber Krimi geht immer. Diese Devise hatte zur Folge, dass die Familienserie in den letzten Jahren nach und nach aus den Hauptprogrammen von ARD und ZDF verschwunden ist. Dabei hat dieses Genre für einige der bekanntesten Marken im deutschen Fernsehen gesorgt, von „Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermann“ (1954) über „Die Unverbesserlichen“ (1965 bis 1971) bis zu „Lindenstraße“ (seit 1985). Ausgerechnet ein Privatsender knüpft nun an diese Tradition an: „Das Wichtigste im Leben“ erzählt Geschichten aus dem Leben der fünfköpfigen Bonner Familie Fankhauser. Ein besonderes Merkmal der zehnteiligen Serie ist ihre Bescheidenheit, und auch darin orientiert sich die dritte serielle Eigenproduktion von Vox (nach „Club der roten Bänder“, 2015, sowie „Milk & Honey“, 2018) an den Klassikern: Die einzelnen Folgen sind sowohl inhaltlich wie auch in der Umsetzung angenehm unaufgeregt. Die Serie verfolgt keinen übertriebenen Ansatz à la „Familie und andere Katastrophen“, sie erzählt nicht von Eltern, die am halbwüchsigen Nachwuchs verzweifeln (wie „Das Pubertier“), und es geht auch nicht um erschütternde Tragödien; sieht man mal davon ab, dass es für Kinder durchaus eine traumatische Erfahrung sein kann, wenn sie ihr geliebtes Haustier verlieren. Im Vordergrund steht die Frage, wie sich die ganz normalen Herausforderungen des Alltags meistern lassen.

Das Wichtigste im LebenFoto: Vox / Martin Rottenkolber
Die Fankhausers aus Bonn sind eine Familie, in der sich alle Mühe geben: Theo (David Grüttner), Philipp (Sidney Holtfreter), Sandra (Bettina Lamprecht), Kurt (Jürgen Vogel), Luna (Bianca Nawrath) und der Neuzugang, Mischlung Fredo

Gleichfalls ungewöhnlich ist die Multiperspektivität. Familienserien werden in der Regel aus Sicht der Eltern erzählt, schließlich bilden die Erwachsenen auch die Zielgruppe. Serien-Schöpfer Richard Kropf, der maßgeblich an „You are Wanted“ (Amazon) und „4 Blocks“ (TNT) beteiligt war, räumt den drei Kindern der Fankhausers jedoch den gleichen Stellenwert ein; sie stehen sogar im Mittelpunkt, da sie für die Veränderungen sorgen. Auffällig ist zudem, wie viel Zeit die Drehbücher (Koautorinnen: Elena Senft, Anneke Janssen) den verschiedenen Handlungsebenen geben; auch davon profitieren die jungen Figuren sehr. „Das Wichtigste im Leben“ ist zwar nicht als zehnteiliger Spielfilm konzipiert, weil die Episoden in sich abgeschlossen sind, aber sie bauen aufeinander auf. Deshalb bildet die erste Folge die Basis für den weiteren Verlauf: Als Theo (David Grüttner) beim Bäcker Brötchen holt, wird ihm sein Hund gestohlen. Der kleine Junge ist untröstlich und legt ein Schweigegelübde ab, das erst enden soll, wenn Fredo zurückkehrt. Die Eltern Kurt und Sandra (Jürgen Vogel, Bettina Lamprecht) gewöhnen sich an Theos Stummheit, zumal er auf seine Handflächen „Ja“ und „Nein“ geschrieben hat, aber bei der schulischen Eignungsprüfung sind Antworten gefragt.

Auch die beiden anderen Geschwister bekommen ihre eigenen Geschichten. Philipp (Sidney Holtfreter) ist zu Kurts großer Freude ein talentierter Basketballspieler, doch ausgerechnet am Tag eines großen Spiels, das den Grundstein für seine Profikarriere legen könnte, verkündet er dem verdatterten Vater, dass er lieber Balletttänzer werden möchte. Dritte im Bunde ist die knapp 14jährige Luna. Sie verliebt sich in den deutlich älteren Stiefbruder ihrer besten Freundin (Lea Zoe Voss), die das prompt als Verrat empfindet. Bianca Nawrath (Jahrgang 1997) wirkt zwar deutlich jünger als Anfang zwanzig, geht aber nur mit viel Wohlwollen als junger Teenager durch. Trotzdem bestätigt sie ihre großartige Leistung aus der ARD-Komödie „Papa hat keinen Plan“, als sie in ihrer ersten Hauptrolle an der Seite von Lucas Gregorowicz ein enormes Potenzial offenbarte und im Grunde der Star des Films war. In der Vox-Serie hat sie erneut die besten Dialoge und agiert auch hier mit verblüffender Natürlichkeit.

Das Wichtigste im LebenFoto: Vox / Martin Rottenkolber
Alltagsnahe Situationen mit starken emotionalen Zwischentönen. Philipp (Sidney Holtfreter) weiß, wie weh er seinem Vater (Jürgen Vogel) mit seinem Entschluss tut, sich fürs Ballett und gegen eine mögliche Zukunft als Basketballprofi zu entscheiden.

Soundtrack:
Folge 1: Kid Kopphausen („Das Leichteste der Welt“), Smith & Burrows („Wonderful life“), Labi Siffre („It must be love“), Nina Simone („Sinnerman“)
Folge 2: Drehz („Machine Routine“), Paul Mc Cartney („Early Days“), The National („About today“), Drehz („Heart Cry“), The Cure („Close to me“)
Folge 3: The Shins („New Slang“), Kid Cudi feat. Kanye West („Reborn“), Jose Gonzalez („Stay alive“), Beyoncé („Halo“)

Für die weiteren jungen Mitwirkenden gilt das allerdings ebenfalls. Sidney Holtfreter muss ja nicht nur schauspielerisch überzeugen, selbst wenn einige Momente recht emotional sind: Philipp weiß natürlich, wie weh er seinem Vater mit der Entscheidung fürs Ballett tut. Kurt war selbst Basketballer und sieht seinen Sohn schon in der NBA. Nicht minder wichtig sind jedoch die Tanzszenen, und auch dabei macht der junge Mann eine ausgezeichnete Figur; Holtfreter ist mehrfacher Europameister im Hip-Hop-Tanz. Auch der kleine David Grüttner ist ausgezeichnet geführt und hat anders als viele Kinder in seinem Alter keine Probleme, seine zum Teil sehr anspruchsvollen Dialoge realistisch klingen zu lassen. Verblüffend gut gespielt ist beispielsweise eine Szene, in der Theo in den Schwarzwald „auswandern“ will und dabei einem Meeresbiologen begegnet, mit dem er eine Art Fachgespräch führt.

Das Wichtigste im LebenFoto: Vox / Martin Rottenkolber
Fast zu schlau, um wahr zu sein: Luna ist die Durchblickerin in der Familie. Sie besitzt sowohl große Empathie als auch eine bemerkenswerte analytische Kompetenz. Und sie kann nicht nur reden, sondern sie weiß auch, wie Kommunikation funktioniert. Da ist es auch kein Zufall, dass Bianca Nawrath der heimliche „Star“ der Serie ist.

Eine Überraschung ist die Besetzung der scheinbar unspektakulären Rolle des Familienvaters mit Jürgen Vogel, was die Figur umso interessanter macht, weil dessen Tätowierungen auf den ersten Blick nicht zu Kurt zu passen scheinen. Kropf, der auch als Creative Producer fungiert, hat ohnehin dafür gesorgt, dass sich die Figuren nicht auf Anhieb offenbaren. Philipp ist offenkundig kein leibliches Kind, wie seine dunkle Hautfarbe verdeutlicht, aber über die Hintergründe wird zunächst kein Wort verloren. Sandra, von Bettina Lamprecht („Pastewka“, „Südstadt“) sehr ansprechend verkörpert, hat sich fast ihr halbes Leben um die Familie gekümmert und möchte jetzt endlich mal an die eigenen Bedürfnisse denken. Sie betreibt zwar einen Videoblog („Kochen für Kids“), hat aber nur 43 Abonnenten, und die regelmäßigen Kommentare stammen von ihrer Tochter. Mit Hilfe einer Zufallsbekanntschaft verwirklicht sie ihren Traum vom eigenen Café, was aber prompt zu Problemen ganz anderer Art führt.

Mindestens so wichtig wie die Einzelleistungen ist gerade bei einer Familienserie natürlich die Wirkung der Schauspieler als Ensemble, und auch in dieser Hinsicht lässt die Serie keine Wünsche offen. sehenswert sind die Nebendarsteller, zumal ihre Rollen ebenfalls großen Anteil an der Alltagsauthentizität der Serie haben. Sehr schön beobachtet ist beispielsweise ein Besuch der Familie bei den Großeltern: Hans Fankhauser (Walter Kreye) ist ein Vertreter der alten Schule, weiß alles besser, spricht gern in Lehrsätzen („Nicht immer googeln, selber denken“), hat eine Aversion gegen Anglizismen und reagiert angesichts von Philipps Ballettträumen regelrecht schockiert. Oma Christa (Beatrice Richter, „Sketchup“) fragt sich, ob der adoptierte Junge womöglich schwul ist, schließlich sei er ja eine „genetische Wundertüte“. Direkt aus dem Leben stammt auch der für ältere Menschen nicht untypische Vorsatz, bloß nicht zu viel Tageslicht ins Haus zu lassen: Als die tiefstehende Herbstsonne ins Wohnzimmer scheint, wird prompt die Markise ausgefahren.

Das Wichtigste im LebenFoto: Vox / Martin Rottenkolber
Während Kurt (Jürgen Vogel) und Sandra (Bettina Lamprecht) moderne Eltern sind, die ihre Kinder machen lassen, manchmal auch schweren Herzens, gehören Kurts Eltern (Walter Kreye, Beatrice Richter) deutlich einer anderen Generation an. Stark: Weder die Charaktere noch die Erzählung sind auf Harmonie oder Dramödie gepolt.

Soundtrack:
Folge 4:
Wilco („If I ever was a child“), The Magnetic Zeros („Free stuff“), Woodkid („I love you“ / Acoustic Version), Beyoncé („Run the world“), Oasis („Half the world away“)
Folge 5: Kim Wilde („Kids in America“), Sinead O´Connor („Nothing compares to you“), Peaches („You love it“), Magnetic Fields („The book of love“), Kid Cudi feat. Pharell Williams („Surfin`“)
Folge 6: Edward Shape & The Magnetic Zeros („Man on fire“), Bruce Springsteen („We take care of our own“), Olafur Arnalds („Life story“), Leonhard Cohen („Love calls you by your name“)
Folge 7: Agnes Obel („Dorian“), Daughter („Youth“)

Auch die weiteren Nebenfiguren sind interessant und zum Teil namhaft besetzt, etwa mit Annette Frier als Ärztin, die Theo angesichts seiner Stummheit die Einschulungsempfehlung verweigert. Nur auf den ersten Blick ungewöhnlich ist dagegen die Idee, den charismatischen Besitzer des Ballettstudios von Aleksandar Jovanovic verkörpern zu lassen. Der Schauspieler spielt sonst zwar meist harte Kerle, ist aber ausgebildeter Tänzer. Dennoch wird eine ausführliche Szene wie jene, in der der Lehrer die Mystik des Tanzes vorführt, auch für ihn ungewohnt gewesen sein. Davon abgesehen passt er prima zu der Rolle, schließlich ist Ballettausbildung eine harte Schule. In der Serie ist ohnehin nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, gerade zwischen den Geschwistern fliegen auch mal die Fetzen, wobei es meist Luna ist, die die unbequemen Wahrheiten ausspricht. Dafür halten die drei immer zusammen, wenn es darauf ankommt, und auch das macht die Fankhausers ausgesprochen sympathisch.

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VOX

Mit Jürgen Vogel, Bettina Lamprecht, Bianca Nawrath, Sidney Holtfreter, David Grüttner, Aleksandar Jovanovic, Lea Zoe Voss, Walter Kreye, Beatrice Richter, Nadja Becker, Denis Schmidt, Jascha Baum. Gäste: Annette & Caroline Frier

Kamera: Timo Moritz, Pascal Schmit, Marco Uggiano

Szenenbild: Simon Schläger, Götz Harmel

Kostüm: Anja Kruse

Schnitt: Benjamin Ikes, Robert Bohrer, Jens Müller

Musik: Jens Oettrich

Redaktion: Frauke Neeb

Produktionsfirma: Bantry Bay Productions

Produktion: Lasse Scharpen

Headautor*in: Richard Kropf

Drehbuch: Richard Kropf, Elena Senft, Anneke Janssen

Regie: Till Franzen, Laura Lackmann, Stefan Bühling

Quote: Folgen 1+2: 1,31 Mio. Zuschauer (8,4% MA); Folgen 3+4: 1,15 Mio. (7,4% MA)

EA: 05.06.2019 20:15 Uhr | VOX

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