Das weiße Schweigen

Julia Jentsch, Kostja Ullmann, Elena Uhlig, Esther Gronenborn. Alle haben geschwiegen

Foto: RTL
Foto Tilmann P. Gangloff

Das angenehm unspekulative RTL-Drama „Das weiße Schweigen“ (Nordfilm) mit Julia Jentsch und Kostja Ullmann basiert auf den wahren Geschehnissen rund um den „Todespfleger“ Niels Högel, der mutmaßlich weit über hundert Patienten getötet hat. Klug und plausibel verdichtet das Drehbuch von Regisseurin Esther Gronenborn und Sönke Lars Neuwöhner die Ereignisse, die sich bis zu einem letzten Urteil des Bundesgerichtshofs über zwanzig Jahre hingezogen haben, zu einem Fernsehfilm, der die fiktionalisierte Geschichte als Rückblende erzählt. Rahmenhandlung ist der Prozess gegen den Pfleger, Hauptfigur ist eine Krankenschwester, die den Kollegen früh verdächtigt, von ihren Vorgesetzten jedoch abgewimmelt wird; trotzdem gelingt es ihr schließlich, dem mörderischen Treiben ein Ende zu setzen. Abgesehen von kleinen Spannungsspitzen verzichtet das sorgfältig inszenierte Drama, das auch seine Kritik am Gesundheitssystem nicht vor sich herträgt, auf Schockeffekte.

Dank Hollywood haben sich zwei Typen des Serienmörders im kollektiven Bewusstsein etabliert: hochintelligente Täter wie Hannibal Lecter („Das Schweigen der Lämmer“), die ein perfides Spiel mit der Polizei treiben, und geistesgestörte Killer wie Michael Myers („Halloween“), die wahllos alle töten, die ihnen in die Quere kommen. Die Wirklichkeit ist meist weniger spektakulär; und im Fall von Niels Högel auch ungleich komplizierter. Wie viele Menschen der frühere Krankenpfleger auf dem Gewissen hat, weiß er womöglich selber nicht. Verurteilt wurde er schließlich wegen 85 Taten, verdächtigt wurde er in 97 Fällen, aber Schätzungen gehen von einer weitaus höheren Anzahl aus.

Das weiße SchweigenFoto: RTL
Keiner hat so viele Menschen ins Leben zurückgeholt wie Weber (Kostja Ullmann), der als „Reanimator“ gefeierte Held im Haus. Aber anscheinend findet es auch niemand verdächtig, dass es in der Klinik überdurchschnittlich viele Todesfälle gibt.

2021 gab es bereits zwei Dokumentationen über den Fall, „Schwarzer Schatten“ (Sky/Radio Bremen) und „Der Todespfleger“ (TV Now); nun folgt mit „Das weiße Schweigen“ eine Fiktionalisierung. Regisseurin Esther Gronenborn und Koautor Sönke Lars Neuwöhner haben die Ereignisse, die sich bis zu einem letzten Urteil des Bundesgerichtshofs (2020) über zwanzig Jahre hingezogen haben, klug und plausibel zu einem Fernsehfilm verdichtet, der die Geschichte aus Sicht einer Kollegin erzählt: Krankenschwester Clara Horn (Julia Jentsch) kehrt dank der Vermittlung ihrer Freundin Barbara (Elena Uhlig), Stationsleiterin in der Kardiologie eines niedersächsischen Krankenhauses, nach mehrjähriger Auszeit in den Beruf zurück. Alsbald teilt sie die Bewunderung der Kolleginnen für den attraktiven Krankenpfleger Rico Weber (Kostja Ullmann), der als „Reanimator“ so etwas wie ein unbesungener Held des Hauses ist: Keiner hat so viele Menschen ins Leben zurückgeholt wie er. Aber anscheinend findet es auch niemand verdächtig, dass es überdurchschnittlich viele Todesfälle gibt, wenn Rico Dienst hat. Als Clara der Sache nachgehen will, prallt sie gegen eine Mauer des Schweigens und gilt bald als Nestbeschmutzerin.

Gronenborn hat nach ihrem mit dem Deutschen Filmpreis 2001 für die Beste Regie ausgezeichneten Kinodebüt „alaska.de“ (2000), nach „Adil geht“ (2005) und dem umstrittenen Mystery-Thriller „Hinter Kaifeck“ (2009) die letzten Jahre ausschließlich für ARD und ZDF gedreht. Ihre Arbeiten, darunter Freitagskomödien mit Anspruch für die ARD-Tochter Degeto („Väter allein zu Hause“, „Ziemlich russische Freunde“, „Das Leben ist kein Kindergarten 2“) oder romantische Dramen fürs ZDF („Nächste Ausfahrt Glück“) waren sehenswert. Einziger Ausreißer war ausgerechnet ein Film, in dem die Regisseurin Ernst machte: „Ich werde nicht schweigen“ (2018, ebenfalls mit Neuwöhner) handelte von einer Frau, die nach Kriegsende die während des Zweiten Weltkriegs im niedersächsischen Wehnen begangenen Euthanasie-Morde aufdeckt. Gerade angesichts der kraftvollen Geschichte über eine Witwe, die zudem Opfer eines Komplotts wird, war der Film jedoch seltsam kraftlos, zumal einige Nebenfiguren klischeehaft ausfielen und nicht alle Mitwirkenden restlos überzeugend waren.

Das weiße SchweigenFoto: RTL
Regisseurin Esther Gronenborn und Koautor Sönke Lars Neuwöhner haben die Ereignisse, die sich bis zu einem letzten Urteil des Bundesgerichtshofs (2020) über zwanzig Jahre hingezogen haben, klug und plausibel zu einem Neunzigminüter verdichtet. In den Hauptrollen agieren überzeugend Julia Jentsch und Kostja Ullmann.

All’ das ist bei „Das weiße Schweigen“ anders. Gronenborns Regiestil ist wohltuend unspekulativ; die Rahmenhandlung des Prozesses gegen Weber gibt dem Film den Anstrich eines Doku-Dramas. Hier treten nach und nach alle Figuren auf, denen Clara während ihrer Arbeit begegnet: die Managerin (Nina Kronjäger), die sich damit brüstet, die Klinik wieder profitabel gemacht zu haben; der Stationsarzt (Knut Berger), der vorgibt, sich nicht mehr erinnern zu können; der Pflegedienstleiter (Rudolf Krause), in dessen Aktenschrank Clara eine „Todesliste“ entdeckt hat. Geschickt verzahnt das Drehbuch die Aussagen mit den Beobachtungen der Krankenschwester, die schließlich rausfindet, dass die Vorgesetzten mehr als bloß eine Ahnung von Webers ungeheuerlichen Taten hatten; aber alle haben geschwiegen und waschen ihre Hände vor Gericht in Unschuld. Warum sie nicht frühzeitig eingegriffen haben, lässt der Film offen.

An Webers Motiven gibt es dagegen keinen Zweifel. Erst bringt er die Menschen in Lebensgefahr, dann rettet er sie in letzter Sekunde und genießt ähnlich wie ein Feuerwehrmann, der einen Brand legt und nach erfolgter Löschung für das beherzte Eingreifen gefeiert wird, seinen Star-Status. Diese Eitelkeit ist es auch, die ihn letztlich zu Fall bringt. Erneut finden Gronenborn und Neuwöhner eine clevere Lösung, um die Lebenswege der beiden Hauptfiguren miteinander zu verknüpfen, und nun wird auch klar, warum Claras Vater Marcus (Siemen Rühaak) schon in den ersten beiden Filmdritteln mehr als bloß eine Nebenfigur war: Als er nach einem Schlaganfall in ein Krankenhaus eingeliefert wird, trifft Clara dort auf den zwischenzeitlich aus der Landesklinik weggelobten Pfleger, der sein Unwesen am neuen Arbeitsplatz offenbar nahtlos fortgesetzt hat und unverhohlen droht, Marcus etwas anzutun. Als Clara und eine Kollegin (Franziska Ritter) nach Mitteln und Wegen suchen, um das mörderische Treiben des Todesengels zu beenden, wandelt sich „Das weiße Schweigen“ vorübergehend zumindest moderat zum Thriller, aber abgesehen von einem kleinen Schreckmoment, als Clara angesichts des leeren Bettes ihres Vaters das Schlimmste befürchtet, verzichtet Gronenborn auf Schockeffekte. Allein die dumpf im Hintergrund dräuende Musik (Gert Wilden) lässt schon früh keinen Zweifel daran, dass sich etwas zusammenbraut, wenn Weber nachts wie einst Gregory Peck in „Moby Dick“ als ruheloser Captain Ahab durch die Klinikflure stapft. Ähnlich zurückhaltend ist das Drehbuch auch bei seiner Kritik an einem Gesundheitssystem, das die Krankenhäuser förmlich dazu zwingt, Gewinnmaximierung über das Patientenwohl zu stellen. (Text-Stand: 30.5.2022)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

RTL

Mit Julia Jentsch, Kostja Ullmann, Elena Uhlig, Siemen Rühaak, Rouven Israel, Alessija Lause, Nina Kronjäger, Knut Berger, Rudolf Krause, Franziska Ritter, Merve Aksoy

Kamera: Christoph Krauss

Szenenbild: Jörg Baumgarten

Kostüm: Maria Schicker

Schnitt: Ulrike Leipold

Musik: Gert Wilden

Soundtrack: Muse („Surprising“), Sarah Connor („From Sarah With Love“), Adele („Rolling In The Deep“)

Redaktion: Nico Grein

Produktionsfirma: Nordfilm

Produktion: Kerstin Ramcke

Drehbuch: Esther Gronenborn, Sönke Lars Neuwöhner

Regie: Esther Gronenborn

EA: 28.06.2022 10:00 Uhr | RTL+

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach