Das Märchen vom „Wasser des Lebens“ gehört zu den weniger bekannten Erzählungen der Gebrüder Grimm. Das könnte mit seiner Komplexität zu tun haben: Die Geschichte ließe sich ohne weiteres als zwei Stunden langes Hollywood-Spektakel umsetzen, weil der junge Held gleich drei Königreiche vor dem Untergang bewahrt. Autor David Ungureit hat schon diverse Märchen für „Sechs auf einen Streich“ adaptiert und die Vorlage der Gebrüder Grimm kühn, aber plausibel zusammengestrichen. Übrig geblieben ist eine typische Heldenreise: Ein Jüngling stürzt sich wagemutig in ein Abenteuer, besteht mit Mut, Verstand und Mitgefühl alle Herausforderungen, findet die Liebe seines Lebens und wendet am Ende auch noch großes Unrecht ab. Produziert wurde das romantische Abenteuer von Pro Saar Medien, die unter dem früheren Namen Askania Media regelmäßig Filme zur ARD-Reihe beigesteuert hat, so auch die herausragende Andersen-Verfilmung „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, wie fast alle Askania-Märchen ebenfalls nach einem Drehbuch von Ungureit.
„Das Wasser des Lebens“ beginnt klassisch: Es war einmal ein verwitweter König, der hatte zwei Söhne. Aber nun liegt der Regent (Matthias Brenner) im Sterben. Er ist bereits dabei, die Nachfolge zu regeln, als sein Jäger (Luca Zamperoni) von einem verwunschenen Schloss erzählt, das hinterm Düsterwald liegt. Dort soll es einen Brunnen geben, der das Wasser des Lebens enthält. Der jüngere der beiden Söhne, Lennard (Gustav Schmidt), will sich gleich auf den Weg machen, aber sein älterer Bruder Falk (Gil Ofarim) hält ihn für einen Bücherwurm; außerdem will er nicht riskieren, dass Lennard den Vater rettet und ihm die Krone wegschnappt. Die Konstellation der Geschwister folgt dem Muster vieler Märchen dieser Art: Weil Falk hartherzig und selbstsüchtig ist, ignoriert er im Düsterwald die Bitte einer Frau um ein Stück Brot; prompt kommt er nicht weit. Lennard dagegen überlässt ihr bereitwillig sein Brot und auch noch die Wurst dazu. Natürlich ist die dunkelhäutige Salva (Denise M’Baye) eine Vertreterin der guten Mächte und gibt ihm zum Dank Hinweise mit auf den Weg, die zunächst unsinnig klingen („Wenn es eng wird, ist es gut, dass die Sache einen Haken hat“), sich aber später als Rettung in letzter Sekunde erweisen.
Die Mächte der Finsternis haben einst einen Fluch über das Schloss gelegt; damals sind alle Bewohner mitten in der Bewegung erstarrt (eine kleine Anleihe bei „Dornröschen“). Um diesen Bann zu brechen, muss Lennard drei Prüfungen bestehen. Erst holt er jedoch die liebreizende Prinzessin mit einem Kuss aus ihrem tiefen Schlaf (noch mal „Dornröschen“); Friederike (Marlene Tanczik) lächelt darob zwar stillvergnügt in sich hinein, revanchiert sich für die Dreistigkeit aber trotzdem mit einer Ohrfeige. Anschließend muss sich der Prinz den Herausforderungen stellen, bei denen Ungureit künstlerische Freiheit hat walten lassen; im Grimm’schen Märchen gibt es sie gar nicht. Aber sie sind clever ausgedacht, filmisch reizvoll umgesetzt und vor allem ziemlich spannend: Lennard durchschreitet jeweils ein Tor und landet ganz woanders. Die erste Prüfung ist eine Rechenaufgabe und dank des Tipps von Salva leicht zu lösen. Die zweite ist von größerem Kaliber, hier bedient sich Ungureit beim Abenteuer-Genre: Der Held betritt einen Raum, dessen Wände ihn zu zerquetschen drohen. Beim dritten Mal führt ihn das Tor direkt zurück ins Schlafzimmer seines Vaters, und nun wird sich zeigen, ob Lennard den Versuchungen der dunklen Seite widerstehen kann.
Mutig haben die Verantwortlichen die beiden Hauptrollen mit wenig erfahrenen und entsprechend unbekannten Nachwuchsschauspielern besetzt; gerade Marlene Tanczik nutzt ihre Chance, hat aber gegenüber ihrem Filmpartner Gustav Schmidt den Vorteil, ihre Figur sehr modern anlegen zu dürfen. Gil Ofarim, in anderen Produktionen auch schon mal empfindlich fehlbesetzt („Sturmflut“) oder auf sein gutes Aussehen reduziert („Armans Geheimnis“), lässt Falks Machtgier erfolgreich aus allen Knopflöchern strömen. Der ältere Sohn ist auch der Grund, warum die Geschichte nach den bestandenen Prüfungen noch längst nicht zu Ende ist: Falk fädelt eine Intrige ein, die seinen jüngeren Bruder beinahe das Leben kostet. Mindestens so wichtig wie die Darsteller ist jedoch die optische Ebene. Regisseur Alexander Wiedl, bislang überwiegend für Serien wie „Sturm der Liebe“ oder „Die Fallers“ aktiv, hat eine schöne Mischung gefunden: Die visuellen Effekte stechen ins Auge, überdecken aber die Charaktere nicht. Sehr eindrucksvoll ist beispielsweise der weiße Nebel, der Salva aus Mund und Nase strömt, damit sich Falk verirrt. Die Mächte des Bösen wiederum manifestieren sich in schwarzen Rauchschwaden, die unheilvoll durchs Schloss wabern und gegen Ende aus Falks Mund in das Ohr seines Vaters fließen, als er den alten Mann gegen Lennard aufhetzt. Noch imposanter ist die Ausstattung gerade der unterirdischen Landschaft, in der sich der Prinz den Herausforderungen stellen muss. Die Musik ist zum Teil direkt auf die Bewegungen abgestimmt; Komponist Marian Lux sorgt dafür, dass „Das Wasser des Lebens“ mitunter größer wirkt, als es die Bilder eigentlich hergeben.
Der Film mag weder die ästhetische Kraft von „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ haben noch die Hintergründigkeit von „Nussknacker und Mausekönig“, und er ist auch nicht so lehrreich wie „Das Märchen vom Schlaraffenland“; tatsächlich ist die unausgesprochene Botschaft, dass ein Mensch mit reinem Herzen das Böse nicht fürchten muss, sogar eher schlicht. Aber Regisseur Wiedl hat aus dem Stoff einen kurzweiligen, vergnüglichen, stellenweise auch ziemlich spannenden Familienfilm gemacht; und das ist mehr, als sich über viele andere Märchenfilme der ARD sagen lässt. (Text-Stand: 2.12.2017)