Eine allein erziehende Mutter und drei Familien im Ausnahmezustand
Michelle Grabowski (Julia Jentsch) ist verzweifelt. Ihre Tochter Janine (Elisa Schlott) ist unter merkwürdigen Umständen verschwunden – und kaum ein Mensch scheint ihr helfen zu wollen. Steffi (Nina Kunzendorf) und Leo Essmann (Sebastian Blomberg) halten ihre drogenabhängige Tochter Manu (Johanna Ingelfinger), Janines beste Freundin, vor Michelle versteckt. Die beiden jungen Frauen haben gemeinsam mit der Abiturientin Laura (Saskia Rosendahl) am Abend von Janines 20. Geburtstag Party gemacht. Der Dienststellenleiter der Polizeiwache (Stephan Zinner) vermutet, dass Janine ihren Geburtstag genutzt hat, um noch ein paar Stunden oder Tage weiterzufeiern. Forstenau liegt schließlich an der Schnellstraße nach Tschechien, dem Las Vegas für die weniger Betuchten, wo Drogengeschäfte, Glücksspiel & Prostitution florieren. Auch Lauras Vater (Michael Grimm) ist Michelle keine Hilfe. Sie ist ratlos. Soll sie Janines Vater (Godehard Giese), von dem kein Mensch etwas weiß, ins Vertrauen ziehen? Oder sich selbst aufmachen in den tschechischen Sündenpfuhl? Und was ist mit diesem Tarik (Mehmet Atesci): Hat er den Frauen nur Drogen besorgt, oder haben sie zusammen ein Ding gedreht? Als sich der Verdacht erhärtet, die Verschwundene habe mit Crystal Meth gedealt, wird die Polizei in Gestalt von Jens Köhler (Martin Feifel) plötzlich doch aktiv. Michelle ist hin & hergerissen: ihre Tochter eine Dealerin – unfassbar!
„Jede der Generationen will ihren eigenen Weg gehen. Trotzdem, wie das oft in Familien so ist, kommen sie nicht voneinander los.“
Der narrative Kern des Films: „Wir wollten die Familiendynamiken realistisch darstellen und genauso glaubhaft sein in der Schilderung der Kriminalität, die sie beeinflusst.“ (Drehbuchautor Bernd Lange)
Das Verschwinden einer jungen Frau & Generationen, die sich nicht verstehen
„Das Verschwinden“, der Titel der ARD-Miniserie, bezieht sich nicht nur auf die vom Erdboden verschluckte junge Frau, sondern auch auf das Schwinden der Nähe zwischen den Generationen. Berührt wird mit dem Titel ebenso der natürliche Abnabelungsprozess, den die Erwachsenen im Film nicht akzeptieren können. Die Eltern und ihre fast erwachsenen Kinder leben nebeneinander her, keiner weiß viel vom anderen, sie verstehen einander nicht mehr. Den Schwarzen Peter schreiben Autor Bernd Lange („Blaumacher“) und Regisseur/Ko-Autor Hans-Christian Schmid („Was bleibt“) den Erwachsenen zu, die ihrer Verantwortung als Eltern nicht hinreichend nachkommen. Es reicht nicht, nur das Beste für den Nachwuchs zu wollen. So heißt es dann auch im Film: „Und wir checken alle nicht, was die von uns wollen.“ Das ist quasi der Gegenentwurf zum „denn sie wissen nicht, was sie tun“, dem geflügelten Erwachsenenslogan für eine kopflose, wilde, renitente Jugend. Mit den bröckelnden Fassaden der bürgerlichen Familien einher geht der Niedergang der kleinstädtischen Gemeinschaft. Die Jungen würden sich alle am Liebsten aus dem Staub machen – Verschwinden. Die Regeln bestimmen die Alten, was die seelischen Abgründe und sozialen Verwerfungen betrifft, stehen sich die Generationen aber in nichts nach. Jeder lügt dem anderen frech ins Gesicht, eine Mutter schlägt ihr Kind, eine andere enthält der Tochter ihren Vater vor, bei der dritten ist es ihre Krankheit und das kleinbürgerliche Milieu, das bei der Tochter Druck erzeugt. Und die Droge, das Crystal Meth, ist das tödliche Bindeglied zwischen Familiendrama und Krimiplot.
„Der übergreifende Spannungsbogen der Krimihandlung hält die einzelnen Erzählstränge, die sich mit den Familien beschäftigen, zusammen. Wir wollten die besten Elemente eines handlungsorientierten Thrillers mit einer präzisen Beschreibung vom kleinstädtischen Leben in der Gegenwart verbinden.“ (Hans-Christian Schmid, Ko-Autor & Regisseur)
Eine handlungsaktive Mutter auf einer Reise zum Kern der Wahrheit
Zwischen all den Lügen und Heimlichkeiten wirkt Michelle Grabowski wie eine Verlorene, die mit dem Mute der Verzweiflung nach der verschwundenen Tochter sucht. Diese Frau, die um ihre Fehler weiß und zunehmend unter ihnen leidet, wird überragend gespielt von Julia Jentsch: Physische Energie trifft bei ihr auf eine hohe emotionale Durchlässigkeit. Und das braucht sie für ihre Michelle, die sowohl der Aktivposten der Handlung ist als auch die Identifikationsfigur, die den Gefühls- und Empathiehaushalt des Zuschauers lenkt. Diese Frau will ihre Tochter finden, sie ist kein Profi, dafür vermag sie, die Liebe einer Mutter in die Waagschale zu werfen. Und so nimmt sie den Zuschauer sechs Stunden mit auf eine Reise zum Kern der Wahrheit. Acht Tage dauern die Recherchen der „Heldin“. Sie erfährt von moralischen Verfehlungen anderer, muss ihre eigenen Lebenslügen verantworten und sie muss mit ansehen, wie Faustrecht und Freitod benutzt werden, um die kleinstädtische Normalität wiederherzustellen. Diese Übermutter, aber auch alle anderen tragenden Charaktere bewegen souverän die Handlung. Lange und Schmid sind keine Strippenzieher. Plotten des Plotten wegen, so etwas gibt es bei ihnen nicht. Die Geschichte besitzt zwar mit dem Verschwinden einer Figur, „die wie ein Schatten über der Serie schwebt und zu einer Projektionsfläche aller Heimlichkeiten einer Kleinstadt wird“ (Elisa Schlott) ein Rätsel und birgt selbstredend im Laufe der vier Teile einige Geheimnisse, doch künstliche Verrätselung, wie sie in horizontal erzählten Mini-Serien oft als dramaturgisches Grundprinzip eingesetzt wird (beispielsweise in „Mörderisches Tal – Pregau“), spielt indes in „Das Verschwinden“ keine Rolle.
Minenfeld der Projektionen: erzählt werden „mehrere Facetten derselben Sache“
Die Familien bespiegeln sich gegenseitig, die einen wollen aufdecken, die anderen verstecken, verheimlichen – und alles hat mit allem zu tun in dieser Kleinstadt. Das Ergebnis: ein Minenfeld der Projektionen. Für Lange gehört genau das zur Qualität einer Serie: „mehrere Facetten derselben Sache darstellen“. So ergibt sich aus der kriminalistischen Ausgangs-Situation das vielleicht vielschichtigste, am minutiösesten erzählte Generationen-Drama, das das deutsche Fernsehen bisher gesehen hat, ein Drama, in dem Realismus höchste Priorität besitzt. Wir hatten Dieter Wedel („Der große Bellheim“) oder „Im Angesicht des Verbrechens“ von Dominik Graf – serielle Events, die am großen, am gesellschaftspolitischen Rad drehen. Das „kleine“, überschaubare Drama als TV-Ereignis hat es in dieser Form hierzulande noch nicht gegeben. Auch alle herausragenden Mehrteiler der letzten Jahre wie „Unser Mütter, unsere Väter“, „Ku’damm 56“ oder „Weißensee“ wählen – abgesehen davon, dass sie Zeitgeschichte reflektieren – einen völlig anderen dramaturgischen Angang. Und gegen die Präzision und den Tiefgang dieser Erzählung wirkt eine Serie wie „Deutschland 83“– aus heutiger Sicht – doch eher wie eine Räuberpistole und ziemlich überschätzt.
Martin Feifels Polizist Jens Köhler, einsamer Cowboy, macht die sozialen Rollen-Spiele der Kleinstadt nicht mit, hat aber einen fairen, milden Blick auf die Gemeinschaft:
„Die Menschen hier haben kein leichtes Leben. Das ist eine kleine Stadt. Hier wohnen gute Leute. Auch wenn sie vielleicht nicht immer Gutes tun – und da schließe ich Tarik Karaman mit ein.“ (Sätze aus „Das Verschwinden“)
Mikroskopisch genau beobachtet: die Familie & die kleinstädtische Gemeinschaft
Hans-Christian Schmid und Bernd Lange bevorzugen den umgekehrten Weg: Über die Keimzelle der Gesellschaft kommend, soziales Umfeld, regionale, kulturelle und schichtenspezifische Besonderheiten mitreflektierend, erzählen sie von einem Kleinstadt-Mikrokosmos, der in punkto Generationen-Konflikte durchaus Verallgemeinerungswürdiges zutage fördert. Vor allem aber erzählen sie ihre Geschichte(n) im Detail genau & präzise. Lange verzichtet auf Drehbuchkrücken. Das erreicht der Autor dadurch, dass er die Hauptcharaktere nur durch eine wesentliche soziale Rolle definiert: die jeweilige Rolle im Familienverbund. So sind der Unternehmer oder der türkische Gemüseladenbesitzer in erster Linie Väter, bleiben die Junkie-Girlies, auch wenn sie aufbegehren, die „Kinder“ (in ihren anderen Rollen scheitern sie gnadenlos). Und die nach der Tochter suchende Heldin, die als Pflegerin arbeitet, ist acht Tage lang fast nur als Mutter zu sehen: als überforderte Mutter, die aus ihren Fehlern lernen will, und es bei ihrer kleinen Tochter doch schon wieder ähnlich falsch macht. Durch diese fokussierte Charakterisierung der Figuren entsteht die Konzentration auf das Familienthema, das fast alle Interaktionen – selbst die kriminalistisch motivierten – überlagert. Und so spitzt sich auch im vierten Teil nicht nur die Suche nach der Tochter dramatisch zu, auch die Familienschicksale und die Kleinstadtkrisen bekommen ihre Höhepunkte und (verlogenen) Lösungsversuche. Ein paar Erwachsene scheinen etwas verstanden zu haben. „Denn die Lügen und Geheimnisse, die sich über die Jahre in deren Lebensentwürfen breitgemacht haben, sind die am konkretesten greifbaren Ursachen für das Unglück ihrer Kinder“, sagt Lange. Und so heißt es am Ende nicht mehr „Wo ist Janine?“, sondern die Frage aller Fragen lautet: „Bin ich eine gute Mutter?“