Ein Hotel. Es ist Heiligabend, kurz vor 21 Uhr. Die Philosophieprofessorin Judith (Sophie von Kessel) wartet auf ihr Taxi. Wie jedes Jahr zu Weihnachten will sie ihre Eltern besuchen. Daraus wird erst einmal nichts. Denn ein Beamter vom Staatsschutz (Charly Hübner) hält sie in ihrem Hotelzimmer fest. „Dauert nicht lang“, meint er lächelnd – und bombardiert sie kurz darauf mit persönlichen Fragen, deren Antworten er beängstigend präzise selber zu geben vermag. Der Polizist, sein Name ist Thomas, bestimmt den Verlauf der Befragung, die immer wieder die Form eines lockeren Gesprächs annimmt. Judith hält sich anfangs bedeckt, sie will einfach nur so schnell wie möglich weg, raus aus dieser unangenehmen Situation. Als Thomas sie allerdings in politische Diskussionen verwickelt, wird auch sie geprächiger. Die Professorin wird offenbar seit Kurzem beim Staatsschutz als Gefährderin geführt, ebenso wie ihr Ex-Mann, der bereits einen ganzen Tag parallel verhört wird. Nach 40 Minuten lässt der Beamte die Katze aus dem Sack: „Wo ist die Bombe? Wo haben Sie den Sprengsatz versteckt?“ Judith beteuert ihre Unschuld. Sie wisse nichts von einem Anschlag und das Bekennerschreiben, das er ihr zuvor unter die Nase gehalten hat, sei für ihr Seminar gewesen, Teil eines Gedankenspiels. Selbst als Thomas ihr Gewalt androht, schweigt sie sich aus. „Gestehen Sie, bevor er gesteht“, rät er ihr, „unterschätzen Sie nicht die Schwäche der Menschen: Sie machen das erst eine Stunde mit, er schon 24.“ Wird Judith ihren Ex belasten?
„Scheinbares Wortgeplänkel und Töne scharfen Verhörs wechseln sich ab. Wer ist im Recht, wer im Unrecht? Der verhörende Beamte oder die Philosophie-Professorin? In den meisterhaften Dialogen offenbart sich Stück für Stück der Grund für ‚Das Verhör in der Nacht.‘“ (Günther van Endert, Redakteur)
Ein Raum, zwei Schauspieler, ein Sprachduell in Echtzeit. Matti Geschonnecks Fernsehfilm „Das Verhör in der Nacht“ ist entstanden nach dem Theaterstück „Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“). Der Schriftsteller hat das Drehbuch selbst verfasst. Wie im Theater setzt auch das TV-Stück auf das Wort, die ausgefeilten, aber stets gut verständlichen Dialoge, die zwei hervorragende Schauspieler dem Zuschauer näherbringen. Im Film sind es Charly Hübner und Sophie von Kessel, die bereits in der Inszenierung am Münchner Residenztheater die Rolle der Judith übernahm. Anfangs kreisen die Texte ums Private. Der Mann plaudert sogar ein wenig über seine gescheiterte Ehe. Dann durchleuchtet er die politische Gesinnung der Professorin. „Strukturelle Gewalt vs. revolutionäre Gewalt – wenn man liest, was Sie so schreiben, dann hört man tatsächliche die Rote-Armee-Fraktion“, sagt der Mann der Praxis. Die Theoretikerin, die weiß, dass man sie für ihre radikalen politischen Meinungsbekundungen nicht zur Verantwortung ziehen kann, kontert selbstbewusst: „Gewalt heilt die Wunden, die sie schlägt.“ Der Staatsschützer verhält sich so, als würde er in einer Person das Verhör-Prinzip „good Cop, bad Cop“ durchziehen wollen.
Im Vordergrund steht die schrittweise psychologische Enthüllung zweier starker Persönlichkeiten: die Art des Wortspiels miteinander, die immer wieder neuen und überraschenden Wendungen in der Argumentation. Und die Intelligenz dieser beiden Figuren im Umgang miteinander. Das ist bis zum Ende unberechenbar. (Sophie von Kessel)
Im Verlauf der 90 Minuten wird der Ton des gewieften Beamten rauer, und der Druck auf die Frau, die nach 45 Minuten offiziell verhaftet wird, nimmt deutlich zu. Doch die Verunsicherung hält sich in Grenzen, die Akademikerin hat durchaus schwache Momente, bleibt aber weitgehend souverän und bei der Wahl der Gegenmittel immer einfallsreich. Das Dominanzverhältnis verschiebt sich immer wieder. Mal ist der Mann obenauf, mal die Frau – und häufig ist ein strategisches Lächeln im Spiel. Wer die Logik solcher ästhetischen Rede-Duelle kennt ahnt, dass da noch ein Clou kommen wird. Die grundsätzliche Frage dieses Kammerspiels aber beantwortet Kehlmann am Ende erfreulicherweise nicht. Und auch mit politischer Gesinnung hält sich der Autor vornehm zurück. Der verbale Machtkampf konzentriert sich im Mittelteil des Films auf das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit und um die Frage, ob der momentane Staat „das beste System“ sei oder „ein grausames System, das sich mehr und mehr von der Demokratie verabschiedet“. Charly Hübner bringt die Handlung im Presseheft auf eine knackige Gleichung: „Staat packt Individuum, um Staat und Individuum zu ‚retten‘“. Kehlmann sympathisiert mit keiner der beiden Charaktere offen. Und der Zuschauer, der keine der beiden Standpunkte zu 100% vertritt, dürfte in seiner Einschätzung schwanken: In der ersten halben Stunde mit den Einblicken in die staatlichen Möglichkeiten der Totalüberwachung dürften die Sympathien eindeutig bei der im Hotelzimmer festgesetzten Professorin liegen. Das Bild, das man von ihr hat, trübt sich etwas, als sie über den Einsatz von Gewalt im politischen Kampf philosophiert. Skeptisch stimmt einen dann allerdings auch die Äußerung des Beamten: er sei nicht für die Gerechtigkeit zuständig; er brauche einzig und allein ein Geständnis und „eine Geschichte, die sich sehen lassen kann“. Seine psychologische Kriegsführung macht ihn – unabhängig davon, ob das Gegenüber eine Bomben-Legerin ist oder nicht – auch nicht gerade sympathischer.
„Unser Film benötigte eine annähernd realistische Verortung. Natürlich können wir uns filmspezifischer Mittel bedienen wie beispielsweise der Großaufnahme. Dennoch gilt es, die Abstraktion des Theaterstückes zu bewahren – bei respektvollem Umgang mit der Vorlage (Matti Geschonneck, Regisseur)
Wurde das Zwei-Personen-Stück in Struktur, Dialog und Gehalt auch fast 1:1 für die TV-Fassung übernommen – so sind doch die ästhetischen Mittel des Mediums Film andere. Neben dem dezenten Szenenbild, ein Hotelzimmer, geräumig und auf wohnliche Funktionalität ausgerichtet, eine kühle, moderne Hotellobby und ein Flur, der ‚Käfighaltung‘ konnotiert, ist es vor allem die Kamera, die diesen Kampf der Worte auch zu einem abwechslungsreichen Kampf von Körpersprache und Mienenspiel macht. „Die Spannung im Film entsteht eher über die Nahaufnahmen, die Augen und den Gesichtsausdruck“, sagt denn auch Sophie von Kessel. Dies sei ein Grund dafür gewesen, weshalb man auf die Uhr, die in den meisten Inszenierungen des Stücks gut sichtbar mitläuft, im Film verzichtet habe. Wenn man sieht, was sich in den Augen der Charaktere widerspiegelt, braucht man keinen äußerlichen Countdown.
So beschreibt Charly Hübner den Tagesablauf während des Drehs: „Um 5.30 Uhr aufstehen, Text lernen. Um 7.30 Uhr Abholung, 9.30 Uhr Drehbeginn – Text, Text, Text. Um 18.30 Uhr Drehschluss – nach Hause. Spaziergang. 20.00 Uhr bis 22.30 Uhr Text lernen. Und dazwischen mit Sophie von Kessel die Szenen spielen.“
Der Verzicht auf die Uhr war aber noch aus einem ganz anderen Grund sinnvoll. Die ZDF-Verfilmung hält die Logik des abstrakten Theaterraums bei, bedient sich also nicht des herkömmlichen Realismus‘ filmischer Handlungen. Entsprechend erzählt Geschonnecks TV-Kammerspiel auch keinen wirklichen Wettlauf mit der Zeit. Dem widerspricht die relative Gelassenheit des Staatsschützers in der ersten Hälfte des Verhörs. Ein Satz wie „Ich gebe zu, die Zeit wird knapp“ erzeugt noch keine Spannung. Nein, wir sehen hier einen eleganten, abwechslungsreichen Kampf mit Worten zwischen einem Mann und einer Frau, zwischen verschiedenen Weltbildern und Überzeugungen. Eine Countdown-Dramaturgie, wie man sie aus Kino und Fernsehen kennt, wird hier nicht eingesetzt. Hätte man die Uhr trotzdem gezeigt, hätte das allenfalls zu einem Defizitempfinden des (filmerfahrenen) Zuschauers geführt. Der Kampf gegen die Uhr ist in „Heilig Abend“ eine Kopfverabredung, durch die Transformation ins Medium Film wird daraus noch lange kein sinnlich-physisches Versprechen. Absolut physisch dagegen ist das, was einem Sophie von Kessel und Charly Hübner hier als ein beredtes Machtspiel unter Laborbedingungen anbieten. Und das könnte – glaubt man einigen Theaterkritikern – sogar besser als auf der Bühne geglückt sein. Die physische Präsenz im Film killt quasi zwei Charaktere, die vor allem Ideenträger sind, und sie betont das Psychologisch-Menschliche. Einen Psychokrimi aber – das sei vor allem der ZDF-Zielgruppe gesagt – macht das aus „Das Verhör in der Nacht“ noch nicht. (Text-Stand: 31.10.2020)