Strafverteidigerin Lea Brandstätter (Birgit Minichmayr) legt sich gern mit Menschen an. Es ist ihr Job. Als ihr Freund David Winter (Itay Tiran) nach einem Unfall vor ihren Augen in seinem Wagen verbrennt, verwandelt sich ihre Trauer schnell in professionelle Wut. An einen Unfall glaubt Lea nicht. Spieler-Scout David war mit einem Journalisten verabredet. Der liegt jetzt im Koma. Ein zweiter Mord am Stadionrand bestätigt ihre Vermutung: Irgendwas ist verdammt faul. Mit grandioser Sturheit und Hooligan Marcel Fork (Max von der Groeben) an ihrer Seite treibt sie die Suche nach Davids Mördern voran. Während Lea beginnt, die Machenschaften der, in internen Machtkämpfen verstrickten Arrangeure einer neuen Fußball World-League, zu durchschauen, sucht Marcel die Auftragsmörder seines Freundes. Dabei gerät der frisch aus dem Knast entlassene Adrenalin-Junkie mehr als einmal in Lebensgefahr. Auf einer Idee von Martin Ambrosch („Spuren des Bösen“, 2010-2021, „Das finstere Tal“, 2014) basierend, erweitert das Autorenteam um Headautor Bernd Lange das Spieler-Ensemble um mehrere gegnerische Mannschaften. Dramaturgisch sorgfältig und jederzeit überschaubar verdichtet sich das Netz. Spannend daran: Nicht alle Protagonisten bleiben auf ihrer Position.
Spinne im Netz ist Jean Leco (Raymond Thiry). Mit allen Mitteln, auch der Bestechung von abtrünnigen Ratsmitgliedern, will der Präsident der World Football Association das Geschäft mit den Ligen in eine neue Dimension katapultieren. Dabei wartet der Charismatiker geduldig ab und schlägt zu, wenn seine Widersacher ihn für erledigt halten. Wichtige Mittelsmänner in seinem Spiel sind die Scouts. Bevorzugt in Afrika halten Daniel und sein Kollege Richard Felgenbauer (Tom Wlaschiha) in Lecos Auftrag Ausschau nach Talenten. Sie finden ein paar Stars von morgen und lassen den Rest wieder fallen. Wer fällt, ist raus. Verwundet an Körper und Seele. Nachdem Davids Tod den Ball ins Rollen gebracht hat, nehmen die gegnerischen Spieler den Platz in Beschlag: betrogene Talente, bezahlte Auftrags-Killer, machtbewusste Sportfunktionäre und die Ermittler der europäischen Antikorruptionsbehörde.
Das Spiel findet an drei zentralen Schauplätzen statt. In Berlin ist Leas Kanzlei verortet. Das Büro mit ihrer Mentorin Christina (Eva Mattes) am Schreibtisch bildet das sichere Terrain, das es braucht, um sich in die Unterwelten der Stadt vorzuwagen. Dabei kennt Lea keine Berührungsängste. „Legal, illegal, hilfreich“: ihre Devise. So wie Berlin als quirliges Zentrum der Bewegungen zwischen den Antipoden des „Netzes“ fungiert, so ist Birgit Minichmayr alle acht Folgen hindurch der Motor der Geschichte. Mit ähnlichen Nehmer-Qualitäten wie in ihrer Rolle als „Olga“ in den Dengler-Krimis, gibt diese Lea niemals auf. Gegen Minichmayrs Vielschichtigkeit im Spiel und ihrer, in passenden Szenen wunderbar zerknautschten Mimik kann Max von der Groeben nicht anstinken. Sein Marcel hat zwei Gesichter, eins vor dem Zuschlagen und eins danach. Während die Berliner Szenarien aus dem Bauch der Stadt erzählen, zeigen die Aufsichten auf Zürich einen versteinerten, unzugänglichen Ort.
Regisseur Rick Ostermann, („Das Boot“, „Das Haus“) inszeniert diese Stadt als Zentrum alter Mächte, Trutzburg des Geldes und Zentrale des mächtigen World Football Association. Hier schmieden alte weiße (oder besser Solarium-gebräunte) Männer wie Jean Leco oder der Investor Franco Casutt (Marek Wlodarczyk) ihre Pläne. Dritter und exotischster Schauplatz ist Ghanas Hauptstadt Accra. Unter einem weiten Himmel kicken Kinder auf rotbraunen Staubplätzen. Es sind die Jungs, denen europäische Scouts eine Weltkarriere versprechen. Es sind die jungen Männer, die sich nach dem geplatzten Traum nicht mehr nach Hause trauen, die sich an den Traumverkäufern des „Human Trafficing“ rächen wollen. „Das Netz – Spiel am Abgrund“ switcht zwischen diesen drei Orten hin und her. Die Schauplätze bestimmen Rhythmus und Farbe der visuell geradlinig erzählten Geschichten. Die kulturelle Verortung gibt allen Mitspielern – von ganz oben bis ganz unten – den Raum, der ihnen gebührt.
Thriller-Qualitäten gewinnt die Serie durch die Undurchsichtigkeit zentraler Protagonisten. Ob der ermordete David den Plänen von Jean Leco im Weg stand oder sie eher unterstützte, bleibt unklar. Ob die Idee einer World League ein Verbrechen an Spielern und Fans wäre oder die einzige Chance auf das Beenden menschenverachtender Transfer-Geschäfte (wie Jean Leco seine Idee verkauft) – wer weiß? Gekonnt dribbelt „Das Netz – Spiel am Abgrund“ zwischen verschiedenen Positionen und lässt einige Figuren dabei en passant die Seiten wechseln. Neben dem Niederländer Raymond Thiry, als relativ unbekanntes Gesicht eine hervorragende Wahl für die Figur des Leco, glänzt in dieser Hinsicht Marie Lou Sellem als Lecos bis auf die Knochen ernüchterte Ehefrau und sein Assistent René Meier. Benjamin Lillie, der eine ähnliche Assi-Rolle 2016 in dem Bankenthriller „Dead Man Working“ verkörperte ist nur eine von mehreren Kippfiguren. Stichwort Bankenthriller: Natürlich gibt es Momente, in denen das dreckige Spiel um Geld und Macht genauso gut im Bankenmilieu oder im Pharmageschäft verortet sein könnte. Das muss man diesem Serienauftakt aber nicht ankreiden. „Das Netz – Spiel am Abgrund“ liefert einen weltumspannenden Einblick in die Cash-Maschine Fußball und ist damit ideal, um in weiteren vier Serien tiefer in diese Welt einzudringen. Das nächste Spiel findet in Österreich statt. In „Das Netz – Prometheus“ verstrickt sich Tobias Moretti als aufrechter Doping-Experte in die zwielichtigen Geschäfte einer „sauberen“ Fußballzukunft. Der Achtteiler steht ab 28. Oktober in der Mediathek und startet am 17. November in der ARD (Kritik folgt). Ein Wiedersehen gibt es dann mit Spieler-Scout Richard Felgenbauer, Fußball-Profi Emanuel Kanu (Farba Dieng), Finanzier Franco Cassut und WFA-Präsident Jean Leco.