Das Märchen vom Schlaraffenland

Björn Ingmar Böske, Klara Deutschmann, Fiebeler. Naturalismus trifft Disneyland

Foto Rainer Tittelbach

Weil die Sehnsucht nach einem weniger beschwerlichen Leben nicht stirbt, gehört „Das Märchen vom Schlaraffenland“ zu den zeitlosesten Erzählungen des Genres. Der Ort sorgloser Glückseligkeit erweist sich allerdings als ein oberflächliches Reich der Gleichförmig- und Gleichgültigkeit, der Faulheit und des exzessiven Konsums. Die Handlung ist überaus reich an sozialen Lesarten und steckt auch im Detail voller Konnotationen. Die Darbietung dieser Geschichte einer verspielten Liebesanbahnung als knallbunte, kinderaffine Wunderland-Fabel macht diese Verfilmung zu einem echten Familienprogramm. Die Gewerke liefern durchweg bemerkenswerte Arbeit und Klara Deutschmann ist eine Entdeckung.

Die Zeiten sind schlecht. Der Alltag von Paul und seiner Familie ist beschwerlich, der Hunger ist täglich Gast am Tisch – und dann dieser ewige Husten von Schwesterchen Magda. Um endlich die nötige Medizin für die Kleine aufzutreiben, macht sich Paul auf ins Schlaraffenland, das Land, in dem Milch und Honig fließt – so hat es jedenfalls ein fahrender Gaukler den Leuten in der Stadt versprochen. Im Tausch gegen eine Ziege, das Einzige, was der Familie geblieben ist, bekommt Paul die Wegbeschreibung in jenes Paradies, in dem es offenbar an nichts mangelt. An einer unüberwindbaren Felswand scheint seine Reise ihr Ende zu finden. Doch ein „sehender Blinder“ weist dem Wagemutigen, nachdem dieser eine Prüfung bestanden hat, den Weg ins Sehnsuchtsland: sich einfach durchessen durch die Griesbreimauer! Dort angekommen, begegnet ihm die quirlige Pralina. Die junge Frau zeigt ihm ihre Heimat, in der das Essen an den Bäumen wächst und es Lustbarkeiten im Überfluss gibt, „ein Land ohne Sorgen, Ziel und Verstand“, wie es Herr Debreziner, der fahrende Botschafter des Schlaraffenlandes, gebetsmühlenhaft wiederholt. Dieses Immergleiche, die Indifferenz ihrer Landsleute und ihr verfressener Vater scheinen Pralina zu langweilen. Sie ist fasziniert von dem jungen Mann, der so anders ist als die Schnösel in ihrer Welt, dem die Gesundheit seiner Schwester wichtiger ist als das eigene Wohlbefinden. Doch noch ist sie unschlüssig, ob sie ihr „Paradies“ gegen die „Drübenwelt“ eintauschen soll. Und Paul scheint es plötzlich doch nicht mehr so eilig damit zu haben, das Schlaraffenland zu verlassen.

Das Märchen vom SchlaraffenlandFoto: HR / Ben Knabe
Bittere Armut, so sieht die Realität im „Drübenland“ aus. Björn I. Böske & Maria Matschke

Weil die Sehnsucht nach einem weniger beschwerlichen Leben nicht stirbt, gehört „Das Märchen vom Schlaraffenland“ zu den zeitlosesten Erzählungen des Genres. Waren es im 19. Jahrhundert die Armut und die sozialen Missstände, ist es heute vor allem der Überdruss an einem ganz auf die Arbeit fixierten Alltag, auf die funktionale Zeit-ist-Geld-Mentalität, die gesellschaftliche Entwertung des Müßiggangs im Turbo-Kapitalismus, der diesen „Tischlein deck dich“-Mythos auch heute noch wach hält. Der Ort sorgloser Glückseligkeit wird zwar im Märchen, das August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1836 neu ediert hatte, sowie in der bilderprächtigen ARD-Verfilmung von Carsten Fiebeler vom romantischen Helden gefunden, erweist sich allerdings als ein oberflächliches Reich der Gleichförmig- und Gleichgültigkeit, der Faulheit und des exzessiven Konsums. „Der Überfluss ist die Mutter der Langeweile“, bringt es der männliche Hauptdarsteller Björn Ingmar Böske auf den Punkt. „Neugierig und begeisterungsfähig zu bleiben, nicht zu gemütlich zu werden, dem Herzen vertrauen und Entscheidungen zu treffen – auch wenn sie nicht leicht fallen“, so formuliert Partnerin Klara Deutschmann die Moral von der Geschicht’, wie sie sie versteht.

Die Handlung ist überaus reich an sozialen Lesarten und steckt auch im Detail voller Konnotationen und Anspielungen. Dass die Präsentation des Schlaraffenlands Ähnlichkeit besitzt mit einem europäischen Disneyland, dass die oberflächliche Happiness in diesem vermeintlichen Paradies durchaus Anschlussmöglichkeiten bietet an „das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, dass dieses Märchen aber auch dem unsozialen Hedonismus den Spiegel vorhält und die zunehmende Kluft von Arm und Reich in der globalen Welt zeigt, ist nicht von der Hand zu weisen. Und ein Satz wie „Ging es nach mir, ließe ich hier keinen mehr rein – Klettern, Schnitzen, Schwitzen, das bringt nur Unruhe in unser schönes Land“ kann durchaus „flüchtlingspolitisch“ gelesen werden. Die Darbietung dieser Geschichte einer verspielten Liebesanbahnung als knallbunte, kinderaffine Wunderland-Fabel macht diese Verfilmung zu einem echten Familienprogramm, bei dem klein und groß gleichermaßen Spaß haben können. Uwe Ochsenknecht als Vielfraß-König kurz vor dem Platzen oder Friedrich Liechtenstein als überfreundlicher Aufziehfigur-Mensch allein machen schon Laune genug.

Das Märchen vom SchlaraffenlandFoto: HR / Ben Knabe
Mit neuem Blick und größerem Selbstbewusstsein wieder in der Realität angekommen. Björn Ingmar Böske und die Entdeckung Klara Deutschmann

Aber nicht alles in „Das Märchen vom Schlaraffenland“ ist in ein rosafarbenes Licht getaucht. Der Film beginnt in der ganz normalen Welt, dem städtischen Leben im 19. Jahrhundert, dem beschwerlichen Tagwerk der einfachen Leute. Die Armut spiegelt sich in einem düsteren Realismus: Fabrikschlote, Rauch, Krankheit und Wassersuppe – da traut sich nicht einmal die Sonne hinter den Wolken hervor. Auch die Reise spiegelt die Verzweiflung des Helden, den Irrlichter ins Moor locken, bevor ihm der „sehende Blinde“ begegnet. Farblos und trist ist die Welt, bevor einem im Schlaraffenland die Augen übergehen. Mal leicht, luftig und auf die Darsteller konzentriert, mal barock und üppig wie die Tafeln voller Speisen, mal stylish und geschmackvoll, abgestimmt auf die jugendlichen Nebenfiguren, besticht das Szenenbild durch Phantasie, Witz und Klarheit. Die Montage dient vor allem dazu, an die graue Gegenwelt zu erinnern, in der Pauls Familie ihn sehnlich erwartet. Emotionales Herzstück des Films nach dem Drehbuch von Anja Kömmling und Thomas Brinx sind allerdings die zwei Hauptfiguren. Paul hat alle Sympathien auf seiner Seite. Björn Ingmar Böske spielt das mit entsprechend einnehmender Art, aber eher unauffällig. Das passt zur Figur und ihrer Herkunft. Pralina hingegen ist extrovertiert, keck und sie trägt ihr Herz auf der Zunge. Neben Ausstattung und Kostümen wird man mit diesem Märchen auf Dauer wohl den Namen Klara Deutschmann verbinden. Die Tochter von Heikko Deutschmann, der Pauls Vater verkörpert, wirbelt und sprachspielt durch den Film (und sieht aus wie die junge Katja Riemann), dass es eine Freude ist. Es gibt also viele Gründe, diese Märchenverfilmung zu mögen. (Text-Stand 1.12.2016)

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Mit Björn Ingmar Böske, Klara Deutschmann, Heikko Deutschmann, Judith Engel, Maria Matschke, Friedrich Liechtenstein, Uwe Ochsenknecht, Wolfgang Michael, Hans Diehl, Florian Wünsche

Kamera: Dominik Schunk

Szenenbild: Alexander Wolf

Kostüm: Polly Matthies

Schnitt: Carmen Vieten

Musik: Thomas Klemm

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Drehbuch: Anja Kömmerling, Thomas Brinx

Regie: Carsten Fiebeler

Quote: 1,80 Mio. Zuschauer (11,6% MA)

EA: 26.12.2016 13:35 Uhr | ARD

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Kontoinhaber: Rainer Tittelbach