Das Mädchen am Strand

Ferch, Auer, Wörner, Milberg, Bock, Thomas Berger. Trommelfeuer der Mutmaßungen

Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Foto Rainer Tittelbach

Zum dritten Mal nach „Tod eines Mädchens“ (2015) und „Die verschwundene Familie“ (2019) führt ein ZDF-Zweiteiler in das fiktive Ostseebad Nordholm. Auch in „Das Mädchen am Strand“ (Network Movie) stehen der mackerhafte Bulle aus der Hansestadt und die gewissenhafte Kollegin aus der Provinz im Zentrum. Sie hat mittlerweile ihren Dienst quittiert und ist nur noch bedingt Mülleimer für Kesslers Probleme, bleibt aber für ihn eine wichtige Informationsquelle. Dem 180-Minüter gelingt es, Krimi und Drama zu sein. Lebenslügen sind eine gute Saat für Crime, besitzen aber auch ihren eigenen Wert. Auch wenn Thomas Bergers Inszenierung auf ästhetische Extravaganzen verzichtet, er das Drama der Charaktere und den Realismus des Schauplatzes über den Stil-Willen eines Kriminalfilms stellt – so ist doch dieses Nordholm eine reine Fiktion: Es ist ein Dorf gewordenes Sinnbild für dysfunktionale Familien, für eine verlorene Generation an der Schwelle zum Erwachsenwerden, für Einsamkeitsgefühle, für ein sich abgrundtiefes Fremdsein. Wie sich damit Krimi-Spannung potenzieren lässt, das haben auch schon andere Produktionen gezeigt.

Katerstimmung in Nordholm. Nach einer ausschweifenden Abiturfeier am Strand wird am nächsten Morgen die 19-jährige Jule Reinhardt (Tijan Marei) im Wäldchen auf der Klippe, dem Wahrzeichen des Ostseeörtchens, tot aufgefunden. Entdeckt wurde sie ausgerechnet von Sven (Nick Julius Schuck), dem Sohn der Ex-Polizistin Hella Christensen (Barbara Auer). Sie ist nicht die einzige, die befürchtet, dass ihr Kind etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben könnte. Als Kommissar Kessler (Heino Ferch) in Nordholm auftaucht, weht sofort wieder der gewohnt raue Wind. Er übernimmt den Fall, weil es in Hamburg einen Mord an einer jungen Frau gab, die in einer dubiosen Beziehung zur Toten von Nordholm gestanden haben soll. Als erstes werden außer Sven und der fassungslosen Mutter der Toten (Sophie von Kessel) weitere Jugendliche vernommen: die jungen Männer (Oskar Beltin, Bruno Alexander), die den Strand am Abend mit Jule verlassen haben, und Lisa (Lena Klenke), der am Morgen als erstes die Abwesenheit der „Mitschülerin“ aufgefallen war. Sie ist die Tochter des vorbestraften Immobilienmaklers Steinkamp (Axel Milberg) und seiner lebenshungrigen Frau Beate (Natalia Wörner). Der halbseidene Geschäftsmann steht bald genauso unter Verdacht wie der Lehrer (André Szymanski), der seine Aufsichtspflicht nicht allzu ernst genommen hat. Sie und weitere Personen verstricken sich in Widersprüche. Ob die Ursachen dafür persönliche Geheimnisse sind oder ob sie für die Mordermittlungen zielführend sind, dies zu erkennen, fällt Kessler und seinen Hamburger Kollegen (Katharina Schlothauer, Rainer Strecker) nicht immer leicht. Als der Kommissar irgendwann nicht mehr weiterkommt, holt er sich informell Tipps von Christensen – aber auch sie, der die Trennung von ihrem Mann (Rainer Bock) und die Entfremdung von ihrem Sohn zu schaffen macht, kann Hilfe gebrauchen.

Das Mädchen am StrandFoto: ZDF / Marion von der Mehden
Das titelgebende Mädchen am Strand (Tijan Marei) und zwei ihrer Verehrer (Oskar Belton, Bruno Alexander). Stimmt es, dass Jule allen Jungs den Kopf verdreht hat.

Zum dritten Mal nach „Tod eines Mädchens“ (2015) und „Die verschwundene Familie“ (2019) führt ein ZDF-Zweiteiler in das fiktive Ostseebad Nordholm. Auch in „Das Mädchen am Strand“ stehen der mackerhafte Bulle aus der Hansestadt und die gewissenhafte Kollegin aus der Provinz im Zentrum der Geschichte. Sie hat mittlerweile ihren Dienst quittiert und ist nur noch bedingt Mülleimer für Kesslers Probleme, bleibt allerdings für ihn eine wichtige Informationsquelle. Ihre Beziehung scheint einen Hauch persönlicher zu werden. Während sie ihm ihre familiären Befindlichkeiten mehr oder weniger ungewollt während seiner Ermittlungen auf dem Silbertablett serviert, gibt der große Schweiger, der sich noch immer mit gelegentlichen Brüllattacken Gehör verschafft, seine privaten Obsessionen niemandem preis. Nur der Zuschauer weiß, dass er noch immer mit der Mutter des vor fünf Jahren ermordeten Mädchens, eine „etwas komplizierte“ Liaison unterhält (obgleich die von Anja Kling gespielte Figur im Film diesmal nicht auftaucht). Und er weiß auch, dass sich Kessler an den Wink von der offenen Beziehung der Steinkamps, den ihm die Gattin gegeben hat, eines Nachts erinnern wird. Der Herr Kommissar ist also nicht anders als die Bewohner von Nordholm, von denen die meisten etwas zu verbergen haben. Dieses oftmals „zweite, verborgene Leben“, wie es Autor-Regisseur Thomas Berger nennt, spülen die Mordermittlungen an die Oberfläche. In „Die verschwundene Familie“ funktionierte das ähnlich; während im Auftaktfilm – damals hatten noch die Krimi-Experten Stefan Holtz und Franz Iwersen das Drehbuch geschrieben – die Drama-Momente eher wie ein notwendiges Anhängsel der Krimihandlung wirkten.

Das Mädchen am StrandFoto: ZDF / Marion von der Mehden
Ex-Polizistin Christensen (Barbara Auer) und Kessler (Heino Ferch): Sie kennen sich, respektieren sich zunehmend und jeder der beiden braucht gelegentlich die Hilfe des anderen. Seine Ermittlungen stecken irgendwann in einer Sackgasse, und sie hat Angst, dass ihr Sohn in den Mordfall verwickelt sein könnte. Anders als in dem Zweiteiler „Die verschwundene Familie“, in dem ihr Mann unter Verdacht geriet, schenkt Christensen dem Choleriker aus Hamburg die meiste Zeit reinen Wein ein.

Dem 180-Minüter „Das Mädchen am Strand“ gelingt es also, gleichsam Krimi und Drama zu sein und dabei nicht das eine gegen das andere Genre auszuspielen. Dafür rücken schon allein die Probleme der Kommissare zu deutlich in den Vordergrund: Während diesmal Kesslers amouröse Ausflüge nur angedeutet werden und die wenig überzeugende Nicht-Beziehung zwischen dem gestandenen Mann um die 60 und seinem Sohn, klugerweise ausgespart bleibt, trägt Barbara Auers Christensen die Drama-Hauptlast. Ihr Sohn Sven ist ihr emotional und dann auch im wortwörtlichen Sinne abhandengekommen. Und zwischen ihr und ihrem Noch-Ehemann, der nach einer Affäre das Weite suchte, aber längst wieder solo ist, scheint alles klar zu sein, so hat Hella Christensen beispielsweise einen neuen Partner – doch wirklich geklärt ist nichts. Dieses Beziehungschaos (in einer köstlichen Szene prügeln sich die beiden Männer) könnte mit ein Grund gewesen sein, weshalb sich der Sohn mehr und mehr abgekapselt hat von seiner Mutter. Jule, dem ermordeten Mädchen, ging es mit ihrer alleinerziehenden, überforderten Mutter offenbar ganz ähnlich. Und so wurden die beiden, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, Freunde. Doch er wollte mehr, und die sexuell hyperaktive Jule hat ihn vielleicht nur an der Nase herumgeführt. Doch damit nicht genug der Familiendramen: Auch und gerade bei einem Paar, das eine offene Ehe führt, sind emotionale Probleme vorprogrammiert. Bereits in der Exposition sprechen die Blicke eine deutliche Sprache.

Das Mädchen am StrandFoto: ZDF / Marion von der Mehden
Die Politik der Blicke deutet es bereits in der Exposition an, dass in Nordholm unter der Oberfläche so einiges gärt. Ist Jule (Tijan Marei) der Traum Svens schlafloser Nächte? Der junge Mann (Nick Julius Schuck) ist der Sohn von Ex-Polizistin Christensen. Jules Mutter (Sophie von Kessel) hat ihre schlaflosen Nächte hinter sich.

„Was alle drei Zweiteiler auszeichnet, ist die genau ausbalancierte Mischung aus Krimi und Drama. Die Opfer sind für uns nicht Mittel zum Zweck. Ihr Tod führt uns zu den Menschen, die mit ihnen tun hatten. Zum Beispiel zu Familien, die über Jahre ihre Abgründe vor den Freunden und Nachbarn verborgen haben.“ (Thomas Berger, Drehbuch & Regie)

Dass in Nordholm Lebenslügen viele Beziehungen dominieren, das ist selbstredend schon auch eine Voraussetzung für die Krimihandlung. Und doch stellt sich beim Zuschauen nie das fade Gefühl ein, das einen so häufig bei 90-minütigen TV-Whodunits überkommt. Auch die extreme Häufung menschlicher Abgründe, die man ja auch aus Ausnahme-Serien wie „Big Little Lies“ oder „Broadchurch“ kennt, wirkt hier nicht überzogen. Auch wenn Bergers Inszenierung auf ästhetische Extravaganzen verzichtet und er das Drama der Charaktere sowie den Realismus des Schauplatzes (ein netter Wohn- und Urlaubsort für Familien) über den möglichen Stil-Willen eines Kriminalfilms stellt – dieses Nordholm ist eine reine Fiktion: Es ist in „Das Mädchen am Strand“ ein Dorf gewordenes Sinnbild für dysfunktionale Familien, für eine verlorene Generation an der Schwelle zum Erwachsenwerden, für die verschiedensten Einsamkeitsgefühle, für ein sich abgrundtiefes Fremdsein trotz räumlicher Nähe.

Das Mädchen am StrandFoto: ZDF / Marion von der Mehden
Sein Alibi löst sich in Luft auf. Kann so ein liebevoller Vater (Axel Milberg) ein Mörder sein? Seine Tochter Lisa (Lena Klenke) kann und will es nicht glauben.

„Wir haben uns vorgenommen, ganz genau hinzuschauen, hinter die Fassaden zu blicken, Lügen und Geheimnisse aufzudecken, die auf den ersten Blick vielleicht gar nichts mit unserem Fall zu tun haben.“ (Jutta Lieck-Klenke, Produzentin)

Für den Zuschauer wirkt dieser Zweiteiler manchmal wie ein Irrgarten. Den Überblick verliert man allerdings nicht. Es liegt im Wesen der Sache (eines an Figuren und Interaktionen reichen Krimi-Dramas mit mehreren Handlungssträngen), dass da der eine oder andere Tatverdächtige nach fast 90 Minuten Vergessenheit wieder aus dem Ärmel gezogen wird. Das wirkt allerdings hier nicht wie schlechte Dramaturgie, sondern eher wie ein Reflex der Ermittlungsrealität. Dem markig-markanten Spiel Heino Ferchs zum Trotz – auch dem Kommissar fehlt der Durchblick. Menschlich ohnehin eine Katastrophe stößt er auch als Polizist an seine Grenzen. Das merkt man erst mit der Zeit. Kessler hat immer dieselbe, sehr aggressive Befragungs- bzw. Verhörmethode. Er konfrontiert sein Gegenüber mit einer Vermutung, ja er unterstellt ihm geradezu den Mord. Den Verdächtigen in einem exquisiten Büro-Camper in Dünennähe auf den Zahn fühlen zu lassen, ist eine filmisch wie narrativ fruchtbare Idee. Die fast schon übergriffigen Vernehmungen sind in ihrer Anschaulichkeit und physischen Kraft ohnehin schon sehr intensiv; jetzt kommt auch noch diese Enge hinzu. Wie reagieren die Verdächtigen im Trommelfeuer der Mutmaßungen, die zumeist ziemlich plausibel klingen? Diese Frage interessiert Kessler, zieht aber auch den Zuschauer in ihren Bann. (Text-Stand: 6.12.2019)

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ZDF

Mit Heino Ferch, Barbara Auer, Natalia Wörner, Axel Milberg, Rainer Bock, Nick Julius Schuck, Katharina Schlothauer, Rainer Strecker, Lena Klenke, Sophie von Kessel, André Szymanski, Oskar Belton, Bruno Alexander, Tijan Marei, Hermann Beyer und Martin Lindow

Kamera: Frank Küpper

Szenenbild: Thorsten Lau

Kostüm: Natascha Curtius-Noss

Schnitt: Benjamin Hembus

Musik: Christoph Zirngibl

Redaktion: Daniel Blum

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Thomas Berger

Regie: Thomas Berger

Quote: 1. Teil: 6,24 Mio. Zuschauer (19,2% MA); 2. Teil: 6,18 Mio. (19,8% MA)

EA: 06.01.2020 20:15 Uhr | ZDF

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