Sphärische Gesänge und das unheilvolle Knacken trockener Äste begleiten die junge Sonja (Johanna Hens) auf ihrem letzten Weg durch den Wald. Äußerlich unversehrt, im hellen Rüschenkleidchen und mit glänzenden Lippen entkommt sie der Hütte, in der …, ja was eigentlich geschah? Am nächsten Morgen liegt das Mädchen ermordet auf der roten Bank am Waldsee. Hübsch sieht sie aus. Wie das schlafende Schneewittchen. Neben Sonja dreht sich eine Balletttänzerin auf der Spieluhr, die das Schlaflied „Hush, little Baby“ spielt. Bevor man hier eins und eins zusammenzählen kann, wechselt die Szenerie ins nächtliche Köln von heute. Wieder ist Herbst, wieder spielt an einem Tatort die Spieluhr ihr Lied. Journalistin „Mütze“ ist dem Tipp eines Informanten gefolgt. Auf einem stillgelegten Parkdeck am Dom findet sie die Leiche jenes Mannes, den wir im Rückblick vor der Hütte angsteinflößend „Ich krieg dich“ haben rufen hören. So wie der nun im abgeranzten Liebes-Van liegt, mit lackierten Fingernägeln und Hundekette um den Hals, sieht er gar nicht schön aus.
Ein Spielverderber, wer jetzt schon fragt, wie lang sich eigentlich eine Spieluhr dreht. Oder warum eine gewiefte Reporterin ohne Handschuhe an einem Tatort zugange ist. Den professionellen Part in „Das Lied des toten Mädchens“ übernimmt denn auch schnell Jan Römer. Torben Liebrecht, der jüngst als brutal-undurchsichtiger Ex-Häftling „Basso“ im Kölner „Tatort – Der Reiz des Bösen“ glänzte, bringt Nachdenklichkeit und Ruhe ins Spiel. Als junger Journalist war er mit dem Mordfall Sonja betraut, jetzt ermittelt er mit „Mütze“, lebt in Trennung und versucht, das Kind aus dieser Ehe nicht zu verlieren. Eine frühe Szene zwischen Vater und Sohn überzeugt als Kapitel aus dem normalen Leben und verschafft dem Ermittler weit mehr Kontur als seiner Partnerin, die sich „Mütze“ nennt, weil sie gern Wollmützen trägt. Römer ist es auch, der dank seiner Kontakte durchschaut, dass die Kölner Kripo auf Weisung des Verfassungsschutzes die Finger von dem aktuellen Mordfall lässt.
Weil es in Köln kein Vorankommen gibt, fahren die selbsternannten Ermittler ins fiktive Wilzenberg im Sauerland. Visuell übersetzt: Drohnenaufnahmen von ihrem Wagen auf gerader Strecke gehen in Drohnenaufnahmen von ihrem Wagen auf kurvenreichen Waldstrecke über. Willkommen in der Welt der Schieferschindeln und Fachwerkhäuser, der zerstörten Existenzen (Kerstin Römer als Mutter des Opfers) und blassen Überlebenden (Hans Uwe Bauer als Lehrer Waldheim, Fritz Roth als Wirt). Das äußere Erscheinungsbild mag ein anderes sein, die Befindlichkeiten der Provinzler kommen uns aus tausend Krimis bekannt vor. Kameramann Stephan Wagner macht das Beste draus. In einigen wenigen Totalen fängt er die schwarz-weiße Provinz gekonnt ein. Nach außen alles sauber und gerade. Stillstand und Verfall lauern erst hinter der Tür. Der krimiaffine Regisseur Felix Herzogenrath („Der Usedom-Krimi“, „Nord bei Nordwest“) hat es schon schwerer. Er muss auf norddeutschen Humor verzichten und findet im Drehbuch so gar nichts zu lachen. Die einzige Figur, über die geschmunzelt werden darf, ist der etwas begriffsstutzige Büronachbar in Köln. Von Boxclubbesitzer Arslan (Kais Setti) hätte es etwas mehr sein dürfen. So aber bleibt es beim Hin-und-Her zwischen dem großen Schweigen in der Gegenwart und den von Geheimnis raunenden Rückblicken auf eine schwierige Mädchenfreundschaft in der Vergangenheit.
Foto: Degeto / Frank Dicks
Offensichtlich bietet die Dreierkonstellation der mehr oder weniger lebenshungrigen Teenager Sonja, Anne (Mia Kovac) & Rebecca (Vivian Sczesny) Anlass zu immer neuen Spekulationen und Mordtheorien. Die drei Mädchen haben sich auf gefährliche Abenteuer eingelassen und können einander nicht trauen. Denn, da liegt „Mütze“ richtig: „Drei Freundinnen. Das ist immer eine zu viel.“ Zu wenig erfährt der Zuschauer dagegen über die Hintergründe eines vergangenen Verbrechens und eine Zeugenschutz-Aktion, deren Laufzeit 25 Jahre betrug. Peter Davor und Dirk Borchardt geben als Verfassungsschützer und zurückgekehrter Zeuge nur kurze Gastspiele. Zu echten Handlungsträgern reicht der Raum leider nicht. Statt Spannung also Schauergeschichte. Schade. Und wer in dem ganzen Wirrwarr genau hinschaut erkennt schon mittendrin das Hexenhaus, wo Krähe kräht – und Rauch steigt auf.
Das Drehbuch zu „Das Lied des toten Mädchens“ schrieb Anna Tebbe alias Annette Reeker (auch Produktion). Im Genre kennt sich die Autorin bestens aus. In Zusammenarbeit mit Regisseur Marcus O. Rosenmüller schuf Tebbe die Vorlagen zu zweiteiligen Taunuskrimis nach Nele Neuhaus (ZDF, mit Tim Bergmann und Felicitas Woll) und die beiden Schwarzwaldkrimis „Und tot bist Du!“ (2019) und „Waldgericht“ (2021) mit Max von Thun und Jessica Schwarz (ebenfalls ZDF). Alles solide, alles erfolgreich. „Das Lied des toten Mädchens“ wurde im Herbst 2019 ursprünglich für Sat 1 gedreht und wanderte dann auf den Samstag-Sendeplatz der ARD. Dort mag der Krimi jetzt als Schauerbeigabe zu einem herbstlichen Novemberwochenende taugen. Darüber hinaus wünscht man allerdings jedem Beteiligten die Chance, mal wieder andere Stoffe anzugehen, andere Geschichten zu erzählen und neue Ansätze zu finden. Regisseur Felix Herzogenrath drehte nach „Das Lied des toten Mädchens“ drei Usedom-Krimis, den Taunuskrimi „Muttertag“ und „Wolfsland – Das dreckige Dutzend“. Richtig, das sind Götz Schubert und Yvonne Catterfeld im Wald.