Ein Serienmörder geht um in Wien. Hochgradig grausam, geradezu alttestamentarisch tötet er seine Opfer. Eine Prostituierte wird gesteinigt. Einem Dieb werden die Hände abgehackt. Ein Regisseur wird gekreuzigt. Die Morde werden wie ein Ritus zelebriert, die Tötungsszenarien wie ein Zeremoniell der Öffentlichkeit dargeboten. Je länger der brutale Serienkiller die Praterstadt in Angst und Schrecken versetzt, umso deutlicher wird es, dass der Polizei selbst eine unrühmliche Rolle in dem perfiden Spiel zukommt. Kommissar Dorn, einer, der es mit dem Gesetz nicht immer so genau nimmt, wird zum Adressaten dieser Galerie des Todes.
„Das jüngste Gericht“ ist ein TV-Thriller, der wuchtig und brachial zu Werke geht, ganz so wie die Hauptfigur. Dorn, jener Wiener Straßenköter, der gleich in der ersten Szene agiert, als habe er „die Lizenz zum Töten“, ist ein Instinktbulle, der nicht lange fackelt. „Er ist ein aufgeriebener Mensch, dessen Lebens-Puzzle auseinander gefallen ist“, sagt sein Darsteller Tobias Moretti, „er lebt in einer Zwischenwelt zwischen Triebhaftigkeit und Apathie.“ Dieser Einzelgänger gibt den Ton des fulminanten „Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn“-Thrillers vor. Was der Titel bereits erahnen lässt: Die Zehn Gebote sind der Schlüssel zur Mordserie. Dennoch ist der Zuschauer zu Beginn des Zweiteilers nur ein Stück weit der SOKO voraus. In bester Mystery-Thriller-Tradition setzen Autor Don Bohlinger und Regisseur Urs Egger den Ausrufezeichen der Mordszenarien szenische Fragezeichen entgegen. Warum hasst Dorn seinen Vater, der selbst Polizist war, so fanatisch? Welche Wut treibt diesen Mann um? Was hat es mit den Graphic-Novel-Zeichnungen auf sich, diesen Comics mit ihren geschundenen Leibern und den zornigen Blicken und Blitzen, die im Film eine zentrale Rolle spielen?
Die Handlung verläuft weitgehend in den gewohnten Bahnen des Genres. Die Dramaturgie sorgt für festen Boden unter den Füßen des Betrachters: dem auf „anti“ getrimmten Helden an die Seite gestellt wurden ein eher korrekter, aber nicht uncharismatischer Schlipsträger und eine attraktive Profilerin, bei der sich selbst ein einsamer Wolf mal ausheulen möchte. Die Besetzung ist perfekt: neben Moretti, dem die Basisnote zugedacht ist, agieren Christoph Waltz als die Kopf- und Silke Bodenbender als die Herznote. Oder anders ausgedrückt: Kopf, Bauch, Schönheit – das ist ein Triumvirat, das jedem Zuschauer etwas bietet. Sowohl das Drehbuch als auch die Ästhetik des gesamten Films sind nach diesem Prinzip gestrickt. „So ein düsterer Thriller wie ‚Das jüngste Gericht’ braucht Haltepunkte, die den Erzählfluss unterbrechen, die eine Figur entweder kräftiger machen oder ein bisschen geheimnisvoller“, betont Moretti. Im Falle seines Dorn sind Familiengeschichte und Mordserie eng aneinander gebunden. Die Folge: Der verletzte Wolf setzt immer heftiger zum Alleingang an. Moretti spielt das fiebrig, mit jeder Faser seines Körpers. „Die harte Arbeit besteht darin, die Brüche einer solchen Figur begreifbar zu machen, die zwischen Brutalität und Ohnmacht schwankt“, umschreibt Moretti seinen Rollenfindungsprozess.
„Das jüngste Gericht“ steht in der Tradition von Kinothrillern wie „Das Schweigen der Lämmer“ oder „Sieben“. „Nicht ein Stück Leben, sondern ein Stück Kuchen“, das war frei nach Hitchcock dieser Film für seinen Regisseur. Urs Egger, der sich dieses Jahr für sein DDR-Drama „An die Grenze“ den Grimme-Preis abholte, unterstreicht den Kintopp-Charakter des Zweiteilers. „Der Film ist ein Genre-Stück, ein Thriller, angesiedelt im Subformat Serienkiller-Movie, das genrebedingt in einer hermetisch geschlossenen Welt spielt“, so der Schweizer. „In diesem Erzählkosmos gibt es eine eigene Logik und eigene Zeichen, die mitunter weit weg sind von Wahrscheinlichkeit und dem wirklichen Leben.“
Bei aller Perfektion – dass der Zweiteiler die Zuschauer so mitreißen wird wie „Die Sturmflut“ (11,6 Millionen Zuschauer), ist nicht anzunehmen. Mystery-Thriller sind ein Minderheiten-Genre. Außerdem hat RTL sein Image als Sender fiktionaler Eigenproduktionen systematisch demontiert. Wer jahrelang kein einziges TV-Movie produziert, wer die einzige Marke, „Doppelter Einsatz“, einstellt, bevor er ein neues serielles Fiktion-Format etabliert hat und wer eine gut gemachte Serie wie „Die Anwälte“ schlecht programmiert und dann nach einer Folge aus dem Programm nimmt, der hat nicht nur programmpolitisch alles falsch gemacht, sondern auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Heiner Lauterbachs „Papst-Attentat“ (nur 3,58 Millionen Zuschauer!) bekam das bereits zu spüren. (Text-Stand: 13.4.2008)