Ruth Gärtner, Biologin, um die 30, muss mal wieder ihrer jüngeren Schwester Maria aus der Patsche helfen: Die unstete, junge Frau hat es nach Jerusalem verschlagen, wo sie als Reiseleiterin gearbeitet hat. Offenbar leidet sie am Jerusalem-Syndrom, glaubt, sie werde als Gottesmutter den Messias zur Welt bringen. Genährt wird ihr religiöser Wahn von einer Gruppe christlicher Fundamentalisten, deren Wortführer, ein charismatischer Deutsch-Amerikaner, offenbar einem höheren Plan folgt. Maria fühlt sich in der Mitte dieser „Erleuchteten“ zuhause, sie will nicht mit ihrer Schwester zurück nach Deutschland. Ruth findet zwar Unterstützung bei dem Arzt, der Maria behandelt hat, aber ohne juristische Handhabe und ohne Unterstützung der Polizei hat sie keine Chance gegen diese radikale Sekte, die vom „Weltenbrand“ predigt, um so die Ungläubigen aus Jerusalem zu vertreiben. Planen diese Wahnsinnigen ein Attentat? Wollen sie womöglich den Tempelberg oder die Klagemauer in die Luft sprengen? Und ist Maria nur Mittel zum Zweck in diesem fanatischen Szenario?
DEFINITION: Das Jerusalem-Syndrom ist eine akute mentale Störung, die religiöse Menschen ergreifen kann, wenn sie ins Heilige Land, insbesondere nach Jerusalem reisen. In der spirituell außergewöhnlichen Atmosphäre der Stadt, nahe den heiligen Stätten ihrer Religion, kann es vorkommen, dass christliche Touristen sich für biblische Figuren halten. Im Allgemeinen verschwindet der Wahn nach kurzer Behandlung oder nach Verlassen des Landes wieder.
Die Elemente der Geschichte, die im Fernsehfilm „Das Jerusalem-Syndrom“ verarbeitet werden, besitzen ein hohes Faszinationspotenzial: dieser Zustand des religiösen Wahns, dieses zumeist flüchtige Krankheitssymptom, aber auch die religiöse Mystik, die diese Stadt atmet, in der die drei Weltreligionen auf engstem Raum aufeinanderprallen. Am Anfang stand bei dem produktionstechnisch außergewöhnlichen Projekt die Faszination für dieses Land der Kontraste, diesen Hoffnungsort des christlichen, jüdischen und muslimischen Glaubens. „Oft wird Israel in unserer Wahrnehmung auf den Holocaust und den Nahost-Konflikt reduziert“, so SWR-Redakteur Manfred Hattendorf. Mit dieser deutsch-israelischen Koproduktion wollte man versuchen, „eine Geschichte aus Israel zu erzählen, die tiefer geht als unser Bild aus der Nachrichtenaktualität“. Auch als ein Zeichen der Völkerverständigung wollen die Macher dieses TV-Movie verstanden wissen. Für Regisseur Dror Zahavi ist es auch „ein Film über religiösen Fanatismus und seine Gefahr für die Religion und die Welt“, ein politischer Film.
Auf die Idee, die spirituell aufgeladene Atmosphäre Jerusalems für das Setting eines Thrillers zu benutzen, kam Produzent Oliver Berben. Doch neben dem Genrehaften sollte „Das Jerusalem-Syndrom“ zwischen spannenden Szenen immer auch wieder Fragen des Glaubens aufwerfen: „Wo endet das Gottvertrauen und wo beginnt der Wahnsinn? Sind Menschen verrückt, weil sie Gottes Stimme hören, oder sind sie Heilige?“ Wer sensibilisiert ist für das Thema, der kann solche Momente finden. So sagt beispielsweise der von Benjamin Sadler gespielte Psychologe: „Wenn du zu Gott sprichst, nennt man es beten, wenn Gott zu dir spricht, nennt man es verrückt.“ Insgesamt aber hat man am Ende als Zuschauer doch eher den Eindruck, einen weiteren Dan-Brown-Klon gesehen zu haben. Das Genre macht die Ansätze zum Drama platt. Die Familiengeschichte der Schwestern bleibt nur angerissen, trotz eines Psychologen als eine der Hauptfiguren wird – was Familienstruktur oder religiösen Wahn angeht – wenig vertieft. Spätestens zur Halbzeit steht fest: der Kampf gegen die Sekte, nicht der Zwiespalt zwischen spirituellem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft, wird zum Motor der Handlung. Macht ja nichts. Nur leider weiß Zahavis Film nach dem Drehbuch von Dan Bohlinger als religiöser Thriller noch weniger zu überzeugen. Die Spannungsdramaturgie funktioniert nach Schema F und die Inszenierung ist wenig packend (überzeugend allein Carl-F. Koschnicks Bildgestaltung). Liegt es an diesem Package aus amerikanischem Script-Grobmotoriker, der vor allem für die TV-Movies der Privatsender geplottet hat, und Regie-Feingeist Dror Zahavi, der 2013 gleich zwei Ausnahme-Fernsehfilme im Programm hatte?
Gelungen dagegen ist die Sprachebene des Films. Gedreht wurde auf Deutsch, Englisch und Hebräisch. Nicht alles wurde synchronisiert, nur manches untertitelt – so schlägt das Fremde und Befremdliche nicht nur für die Hauptfigur, sondern auch für den Zuschauer immer wieder durch. Und auch die Besetzung stimmt: Jördis Triebel (nicht Böhm oder Loos!) gibt die toughe Biologin – und sie bringt Nuancen ins Spiel, die nicht im Drehbuch stehen. Benjamin Sadler ist immer eine sichere Bank. Und eine Entdeckung in diesem Jahr ist Leonie Benesch (stark schon im „Tatort – Freunde bis in den Tod“). Sie spielt ihre Maria zwischen psychotisch gestört und innerlich „erleuchtet“ voll engelsgleicher Sanftmut. Wahrlich keine leichte Rolle. „Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es sich anfühlen muss, in seinem Glauben absolut sicher zu sein. Ich habe Marias Text so lange laut vorgelesen, bis er mir nicht mehr fremd war und ich ihn mir irgendwann abnehmen konnte.“ (Text-Stand: 7.11.2013)