Georg Freudenreich wäre es am liebsten, alles wäre so wie früher. Mit seiner Frau Betty hat der ehemalige Brückenbauer gute Zeiten gehabt; noch immer geistert sie durch seine Gedanken, obwohl sie seit fünf Jahren tot ist. Nicht nur sein viel zu großes Haus – auch er selbst scheint langsam zu verwahrlosen. Tochter Judith ist besorgt, zumal sie in Bälde mit ihrem Mann nach USA umziehen wird. Der Verkauf des Hauses scheint plötzlich kein Thema mehr für ihren Vater zu sein – doch kann einer, der auf Menschen, mit Vorliebe auf Makler, schießt, noch Herr seiner Sinne sein und alleine wohnen? Als Georg zusammen mit seinem Schwager den Jackpot beim Lotto knackt, entspannt sich die Situation. Mit den Millionen dürften Renovierung und Pflege gesichert sein. Doch wo ist der verdammte Lottoschein?!
Der ARD-Degeto-Fernsehfilm „Das Gewinnerlos“ erzählt von vier Senioren, die mit Anfang 70 noch etwas erwarten vom Leben. Bei der Hauptfigur und dem befreundeten Schwager dauert es freilich fast 90 Filmminuten, bis sie sich den alles entscheidenden Ruck geben. Der eine bricht endlich aus seiner selbst verordneten Einsamkeit und Trauer aus, tauscht die Gegenwart gegen die Vergangenheit ein; der andere will sich nicht mehr länger darum scheren, was die anderen denken – und sein spätes Glück mit einem Mann leben. Ihre Objekte des Begehrens sind ein eleganter ehemaliger Tanzlehrer und eine Schauspielerin im Ruhestand, die von der Einsamkeit ins Seniorenheim getrieben wurde. Dass diese so lebendige Frau überhaupt Einlass ins düstere Freudenreichsche Reich erhält, ist dem Umstand zu verdanken, dass die Lottokönige ihre Umwelt weiterhin im Glauben lassen wollen, Millionäre zu sein. Denn nur so kann Georg seine Tochter – die ja sowieso bald über alle Berge ist – hinhalten. Die aber drängt darauf, dass jene Sylva, die eigentlich Käthe heißt, zu ihrem Vater zieht.
Die Geschichte liest sich ausgedachter und die Dramaturgie wirkt konstruierter, als sich das Ganze dem Zuschauer darstellt. „Das Gewinnerlos“ beginnt und endet nicht nur mit einem Tanz, der mal der Einbildung entspringt, mal real ist und in die Zukunft weist – die Romantik des Films insgesamt vermittelt sich auf ästhetisch bemerkenswerte Weise. Das Tanzen, das Tagträumen, das Sinnieren, der sprachlose Blick, das beredte Schweigen, das wohl gewählte Wort, das beiläufig Hingesagte („hab’ Kopfschmerzen“ / „selber schuld“), der Satz mit Sentenzcharakter („Ich verstehe die Welt nicht mehr und sie versteht mich nicht“), der Satz mit Subtext („Du bist eine tolle Schauspielerin“) bestimmen die Erzählung und lassen – reich an Zwischentönen – erkennen, wie sehr doch das Wie den sogenannten „Inhalt“ bestimmt.
Matthias Habich über Angela Winkler und über die Tonlage(n) der Geschichte:
„Sie ist vor allem eine Frau, die noch alle Lebensalter sichtbar in sich trägt: das kleine Mädchen, die Göre, den Teenager, die junge und die reife Frau. Georg sieht in ihr die junge Frau und da er sich in sie verliebt, verjüngt er sich auch. In Wirklichkeit verlieben sich also zwei Zwanzigjährige ineinander…“„Die Geschichte nimmt ein paar überraschende Wendungen. Aus anfänglicher Melancholie steigt Heiterkeit auf. Aus Ernst wird Komik, aus Trauer Glück. Es gibt also keine selbstmitleidige Sentimentalität.“
Und zu diesem Wie gehören natürlich auch die Schauspieler. Auch wenn Matthias Habich häufig ähnliche Eigenbrötler-Rollen verkörpert – man kann sich an ihm einfach nicht satt sehen. Angela Winkler dagegen ist ein seltener Gast im Fernsehen. Die gemeinsamen Szenen der beiden, die zuletzt in „Altersglühen“ (2014) aufeinandertrafen, sind ein Fest für den Zuschauer: der Tonfall, die Brüchigkeit der einzelnen Worte, die Semantik des Nicht-Gesagten, diese Präsenz bei aller Zurückgenommenheit, dieses psychophysische So-Sein. Mit dem Alter haben beide das theaterhaft Bedeutungsvolle, das gleichsam den Drama-Stil einer anderen Zeit charakterisiert, zunehmend abgelegt. Sie spielen altersweise oder – sagen wir – ganz auf der Höhe ihres Alters. Herausragend sind aber auch Peter Franke, der im Über-70-Rollenfach das ist, was Martin Brambach, Rainer Bock und Alexander Held in den Um-die-50-Rollen sind, und auch Dietrich Mattausch in seiner kleinen, feinen Rolle als schwuler Tanzlehrer, spielen mit großer Wahrhaftigkeit, ohne weibische Klischees, ohne falschen Ton.
In „Das Gewinnerlos“ treffen aber nicht nur die Schauspieler den Tonfall des Alters, den Kern ihrer reifen Rollen – leise Anflüge von Egozentrik und Altersstarrsinn inklusive – und damit kitschfrei in die Herzen der Zuschauer, das Alter spiegelt sich auch in der Ikonografie der Bilder. Selten sieht man in TV-Produktionen eine so vielschichtige Lichtdramaturgie wie hier. Erst allmählich bringt die ständig singende Schauspielerin Leben – und damit Licht – in die vier Wände ihres falschen Lebenspartners. Das Spiel mit der Dunkelheit, mit Licht und Schatten ist bei Kameramann Matthias Papenmeier und Oberbeleuchter Christoph Dehmel-Osterloh mehr als ein visueller Reiz, dieses Spiel ist auch Teil der Geschichte – weil ja dieser Hang zur Düsternis auch ein realer Reflex aufs Alter ist. Wie sagt doch Georg ein Mal zu seiner „Heulboje“: „Überall lässt du das Licht brennen, Sylva, wir sind doch keine Millionäre.“ Alte Menschen haben es gern dunkel – und das nicht allein aus Sparsamkeitsgründen.
In diesem Film geht es um mehr als um simple Volksmund-Weisheiten („Geld allein macht nicht glücklich“) oder die Dramatisierung wohlfeiler Selbstfindungskalendersprüche („stehe zu dir“). Bei aller „Altersspezifik“ ist „Das Gewinnerlos“ mehr ein Film über die Liebe und das Glück im Alter als über den Krampf des Älterwerdens. Wer liebt hat Recht und somit eine Zukunft – Autorin Edda Leesch („Der Duft von Holunder“) und Regisseur Patrick Winczewski, der nach vielen mittelprächtigen SWR-„Tatorten“ hier sein Meisterstück vorlegt, halten sich an die Regeln des Wohlfühlfernsehens. Man kann es als Manko sehen, dass dieser Film das Thema „Liebe im Alter“ nicht in ein klassisches Problem-Stück packt. Man kann es aber auch als durchaus sinnvoll erachten, dass sich der Film eben nicht in einem „gesellschaftlich relevanten“ Diskurs über die Generation der über 70-Jährigen auslässt und – sich in die Perspektive der erwachsenen Kinder der Alten flüchtend – die „Problemfälle“ von oben herab verhandelt, sondern sich direkt an die Zielgruppe richtet. Das ist sympathisch, das ist Lebenshilfe im Fiktion-Gewand. Ein Stück weit kann man diesen Film sicher auch als Mutmacher-TV sehen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Durchschnittsalter von ARD und ZDF bei 60 Jahren liegt, ist es vor allem aber ein äußerst relevantes Stück Fernsehen!