„Kennst du das eigentlich, wenn man das Gefühl hat, neben sich zu stehen?“, fragt Eva Perner (Petra Schmidt-Schaller) ihre Mutter Karin (Hildegard Schmahl), die darauf wie für alles nur eine lapidare Antwort findet: „Das ist normal; du arbeitest zu viel, da fällt man manchmal in ein Loch, aber das geht vorbei.“ Doch es geht nicht vorbei. Die junge Ärztin wird dieses Gefühl nicht los, „dieses Gefühl“, wie sie sagt, „dass ich nicht ich bin“. Eva hat Angst, verrückt zu werden, wie ihre Halbschwester Lydia (Ina Weisse), das schwarze Schaf der Familie, die in der Pubertät einen Selbstmordversuch beging und in psychiatrischer Behandlung war, bevor sie sich wenig später aus dem Einflussbereich der übermächtigen Eltern für immer entzog und ins Ausland ging. Eva kann nun ihre Ängste direkt an der Quelle abarbeiten, denn Lydia ist heimgekehrt nach Bad Gastein, nicht um Frieden zu schließen, sondern um abzurechnen mit ihrer Mutter (Hildegard Schmahl), ihrem Stiefvater (Helmut Lohner) und ihrem eifersüchtigen Halbbruder (Hary Prinz). Aber auch mit dem Mann, den ihre Schwester gedenkt, in Kürze zu heiraten: Jener Christian Kern (Simon Schwarz) soll sie in ihrer Jugend vergewaltigt haben. Ist das wieder eine „dieser Geschichten“ der psychisch labilen Frau oder ist was dran an dem Vorwurf, der die zweiflerische Eva in eine noch größere Krise stößt?
„Für mich als jemanden, der am liebsten von Lügen und Geheimnissen – in Prinzip von der Unfähigkeit, miteinander zu sprechen und sich auszutauschen – erzählt, ist die Nachkriegsgeneration natürlich ein schier unerschöpfliches Reservoir. Denn es ist die Generation des Schweigens.“ (Hans Steinbichler)
Foto: ZDF / Jürgen Olczyk
„Das Dorf des Schweigens“ ist 2016 das erste Highlight auf dem Montagssendeplatz im Zweiten. Was nach Melodram klingt und eines jener kriminalistisch unterfütterten, geheimniskrämerischen ZDF-Geschichten aus der kaputten Heimat befürchten lässt, ist ein Familiendrama von klassischer Größe, von geradezu griechisch antiker Tragödienwucht und Regisseur Hans Steinbichler, der Mann nicht nur für bayerische Archetypen, nennt seinen Film zu Recht „eine Art ‚Hierankl’ reloaded“, in Anlehnung an sein meisterliches Spielfilm-Debüt. Und wieder reist die Tochter in die alte Heimat an – und am Ende bleibt kein Stein auf dem anderen. Das ist Theater vor großer Berglandschaft im allerbesten Sinne. Der Wasserfall rauscht im Dorf ununterbrochen, eine ständige Gischt bezeugt die Gewalt der Natur und verweist darauf, welche extremen Kräfte in diesem Film bald auch zwischenmenschlich freigesetzt werden. Und die Schauplätze, die Bergwelt, massiv, zerklüftet und bedrohlich, wie sie die Kamera im Intro einfängt, und der Kurort mit seinem verblichenen Charme, sind die perfekten Projektionsflächen für die Geschichte dieser mehr und mehr bröckelnden Familienfassade. Das Hotel der Perners steht noch. Aber es wirkt unbehaust und es ist kalt.
Die Geschichte kommt ganz ohne Genre(film)netz und simple Psychologie aus, mit der große Dramatik in Fernsehfilmen häufig befriedet wird. Die Menschen sind zurückgeworfen aufs Kreatürliche – für die Schauspieler, die bei ihrem Spiel ohne doppelten Boden auskommen müssen, heißt das: größere Freiheit, größere künstlerische Möglichkeiten, aber auch eine größere Verantwortung der Geschichte und dem seelischen Subtext ihrer zu verkörpernden Biographien gegenüber. Ina Weisse, mit „Der große Aufbruch“ und „Ich will dich“ 2015 die Schauspielerin mit den bemerkenswertesten Leistungen im deutschen Fernsehen, spielt ihre psychisch angeschlagene Figur eine Spur entblößter, weicher und zugleich verzweifelter als viele ihrer bisherigen Rollen, weil ihre Lydia weniger kontrolliert ist und sich weniger gut zu schützen weiß. Und Petra Schmidt-Schaller, in den ersten Jahren ihrer Karriere oftmals in Filmen nur die attraktive Beigabe, spielt hier ihre bislang substanziellste und existenziellste Rolle: Die Identitätsfindung ihrer Eva, ihr Gang aus dem Dunkel (des Heil-Stollen in ihrer ersten Szene) ins Licht, den ihr die Halbschwester ermöglicht, steht im Zentrum der Geschichte – und mithin die Frage: Ist die Wahrheit den Menschen manchmal tatsächlich nicht zumutbar? Der Patriarch und seine Frau, mit ihren Lügen das kalte Herz der Familie, kennen darauf nur eine Antwort: Sie kehren weiterhin alles, was sich um das Familien-Geheimnis und die eigene Schuld dreht, unter die kostbaren Teppiche. Steinbichler und Autor Martin Ambrosch („Tatort – Angezählt“) sind dagegen der Ansicht: Der Mensch muss sich der Wahrheit stellen. „Man kann die Wahrheit nicht relativieren“, betont Steinbichler. „Die Erkenntnis, der sich Eva stellen muss, ist wie ein Blitz, der ungeschützt in sie einschlägt.“
Foto: ZDF / Jürgen Olczyk
Das Schicksal bricht sich tragödienhaft Bahn – aber es besteht in „Das Dorf des Schweigens“ für die beiden weiblichen Hauptfiguren durchaus die Möglichkeit, am Ende frei zu entscheiden, wie sie ihren (Lebens-)Weg weiter gehen wollen. Das Plädoyer für Wahrheit und Transparenz setzt sich auf der (film)ästhetischen Ebene entsprechend fort: klar und präzise ist die Inszenierung. Im plotlastigen, krimiorientierten und schnittigen Fernsehfilm der 2010er Jahre bekommt man so wie hier nur noch ganz selten ein Gefühl für Räume, geschweige denn für reale Schauplätze und die Topographie einer Landschaft. Aber auch die Menschen haben ihre Plätze, durch die sie charakterisiert werden. Ein großartiges Bild: Der Senior versunken im Zwielicht, umrahmt von seinen Jagdtrophäen. Auch die Charaktere selbst, die alten Perners, fern vom üblichen Alltagsrealismus großartig von Helmut Lohner (in seiner letzten Rolle) und Hildegard Schmahl verkörpert, erschaffen ihre eigenen Räume – aus Nikotin und Whisky, aus bleierner Selbstgerechtigkeit und körperlicher Hinfälligkeit. Ihre Sprachlosigkeit, die die Sprachlosigkeit einer ganzen Generation ist, findet in einer krank(haft)en Art zu sprechen ihren Ausdruck. Hinzu kommen eine Mimik und eine Gestik, die beredter sind als viele Worte. Zitternde Hände, Gesichtszüge, die vergeblich nach Haltung ringen und einfach wegrutschen, weil die Nerven verrückt spielen. Die beiden Frauen dagegen stoßen mal lauthals, mal stumm Schreie aus (bei Weisse fühlt man sich einmal geradezu an Munchs „Der Schrei“ erinnert). Außergewöhnlich gut auch der musikalische Raum, den der breit angelegte, bewegende, aber nie schicksalhaft dräuende Score dem Ohr erschließt. Als Raum(er)öffner dient die vorzügliche Bildgestaltung von Bella Halben, die immer wieder mit fulminanten Kameraperspektiven und einer großen Beweglichkeit überrascht. Das Prinzip Bewegung konstituiert vor allem auch die Montage von Wolfgang Weigl, perfektioniert in der Eingangssequenz, die in einer ungemein flüssigen Bildkomposition elegant die Heldinnen ein- und räumlich aufeinander zuführt. In „Das Dorf des Schweigens“ verbindet sich all das, die lokale Glaubwürdigkeit, die überragende Wahrhaftigkeit der Figuren und die brillante Arbeit der Gewerke, zu einer betörend vermittelten „Ganzheitlichkeit“. (Text-Stand: 28.1.2016)