Den Anfang macht Charly Hübner alias Wolff-Dieters Zweitgeborener Mario. Es ist ein Fest, ihm zuzusehen. Nicht mit stolz geschwellter Brust, eher mit von Last gebeugten Schultern bestätigt Mario in Folge 1 „Mario – Ungleiche Brüder“ einem Kunden am Telefon, er sei jetzt der Chef bei Sanitärbetrieb Meurer. Dem toten Vater verspricht er, Kurs zu halten, und von Mama (Christine Schorn) lässt sich „Mucki“ die Krawatte binden. Dann geht es mit breiten, pendelnden Bauernschritten zum Friedhof. Neben dem ausgeprägt physischen Spiel verleiht Hübner dem alleinstehenden Mario einen besonderen Sprachduktus. Am flüssigsten murmelt er, wenn sich Mecklenburger Platt einschleicht. Sonst spricht Mario eher in Stichworten als in Sätzen, so, als taste er sich verbal in eine Wirklichkeit vor, die er nicht wirklich durchdringt.
„Jeder Schauspieler kämpft für seine Figur. Keiner will doof dastehen oder blass aussehen. Der Kampf findet mit den Mitteln der Figur statt. Eine Figur mit null Bildungshintergrund kann dann nicht plötzlich Nietzsche zitieren, aber sie kann mit ihren Mitteln arbeiten. Charly Hübner macht das durch die Art, wie er mit Sprache umgeht. Da kämpft er sehr berührend für das Recht dieses einfachen Mannes, gehört und gesehen zu werden. Gleichzeitig wirkt Mario auch jämmerlich. Das sind diese traurigen Momente, in denen er allein an seinem Gameboy daddelt.“ (Regisseur Jan Georg Schütte)
So wie Hübner verleiht jeder seiner Figur Gesicht und Charakter. Aus den Vorgesprächen mit den Fixpunkten der Story vertraut, baut jeder der Schauspieler seinen Part aus. Gesetzte Paare tauschen sich vor dem Dreh aus, aber jeder behält Geheimnisse für sich. Die Charaktere in all ihren Facetten kennt so nur der Regisseur. Jan Georg Schütte hat bewusst alle, die ehemalige DDR-Bürger spielen auch mit solchen besetzt: Charly Hübner, Devid Striesow, Claudia Michelsen, Christine Schorn, Anja Kling, Martin Brambach, Uwe Preuss, Thomas Thieme und Jörg Gudzuhn. Jeder konnte seinen oder ihren Part mit eigenen Geschichten und Erinnerungen anfüttern. Im prominenten Cast von „Das Begräbnis“ sind auch einige aus Schüttes früheren Impro-Filmen bekannte Gesichter vertreten. Mehr noch als in den Vorgänger-Produktionen arbeitet „Das Begräbnis“ mit gebrochenen Biografien und damit mit Kippfiguren. So berührend Hübner als Mario um seine Stellung als Nachfolger des Vaters kämpft, so verloren wirkt er in jedem Moment, in dem ihn die Kamera allein erwischt. Tochter Sabine (Claudia Michelsen) hat es im Westen zu viel gebracht, reist gar mit eigenem Fitness-Coach an, und bricht doch mehr und mehr unter ihren Schuldgefühlen zusammen.
Am offensichtlichsten offenbart sich das Lügengespinst, in dem sich Wolff-Dieters Ältester Thorsten verstrickt hat. In „Thorsten – Der verlorene Sohn“ spielt Devid Striesow (wie in vielen Rollen zuvor) den vermeintlich erfolgreichen Manager von „Meurer International“. Aber Thorsten steht unter Druck. Seine Geschwister wissen das. „Toddo“ war schon immer ein Prahlhans. Seine Verbindlichkeiten gegenüber „Albaner-Toni“ verleihen Episode 2 einen befreiend absurden Anstrich, machen sie mit dem Auftritt von Aleksandar Jovanovic als schwäbelndem Geldeintreiber zu einem Highlight der Reihe. Die Idee zu diesem Auftritt entstand schon während der Vorbereitungen. Jovanovic besichtigte das Set vor allen anderen und wurde konsequent aus allen Dispos rausgehalten. Sein Auftritt war also für alle, auch für Devid Striesow überraschend. Das bedeutet Impro für Schauspieler.
„Ich habe mich den Abend vor dem Dreh separiert und mich den Kollegen nicht gezeigt. Ich bin in meinem Zimmer geblieben, um dieses Überraschungsmoment auch in der Realität zu haben, wenn Thorsten für das Begräbnis zurückkommt und ihn dort alle zum ersten Mal seit langem Wiedersehen.“ (Devid Striesow)
„Ich liebe dieses Flackern im Auge von Devid Striesow, als Aleksandar Jovanovic das erste Mal auftritt. Man merkt sofort, wie es in dem Schauspieler arbeitet. Was ist jetzt zu tun? Dieses Nachdenken findet genauso in der Figur Thorsten statt.“
(Jan Georg Schütte)
Statt einem festen Drehbuch basieren die Stories von „Das Begräbnis“ auf dem Stammbaum der Familie Meurer und auf den zentralen Geschichten, die sich daraus ergeben. Festgelegt ist die Verortung am Schaalsee und damit im ehemaligen deutsch-deutschen Grenzgebiet. Zentrale Rollen spielen eine vereitelte Flucht, der Weggang zweier Meurer-Kinder in den Westen, die Trennung des Verstorbenen von seiner ersten Frau (Christine Schorn), die Ehe mit seiner zweiten Frau Gaby (Catrin Striebeck) und die Zerwürfnisse, die Wolff-Dieters Testament mit sich bringen wird. Nach den Meurer-Söhnen Mario und Thorsten widmet sich Episode 3 Ziehtochter Gaby (Anja Kling) und ihrem erfolglosen Mann Carsten (Martin Brambach). Episode 4 erzählt aus der Perspektive von Enkeltochter Jackie (Luise von Finckh) und Meurers jüngsten Sohn Kevin (Enno Trebs). Beide basteln auf ihre Art an Gegenentwürfen zum Leben im traditionellen Handwerksbetrieb. Jackie ist dabei heimlich in Kevin verliebt, darf es aber nicht sein. „Das Begräbnis“ bedient sich hier der gleichen dramaturgischen Kniffe wie eine Rosamunde-Pilcher-Geschichte. Warum auch nicht?
Ernster wird es mit Episode 5 und den „alten Freunden“ Ernst (Thomas Thieme) und Klaus (Jörg Gudzuhn), die eine Rechnung offen haben. Das Grande Finale gehört Ehefrau Gaby, die in Lassahn nie Fuß fassen konnte und die Hoffnung hegt, das jetzt ändern zu können. In der Ausgestaltung der zentralen Vorgaben frei, bestimmen in allen Episoden allein die Schauspieler, wie viel Raum sie sich nehmen und welche Dynamik sie ihrer Figur verleihen. „Das Begräbnis“ vereint da alle Möglichkeiten einer breiten Palette. Während Catrin Striebeck und Martin Brambach ordentlich aufdrehen und ihre Erzählstränge damit teilweise ins Absurde drehen, verkörpert Christine Schorn beeindruckend die stille, dabei aber nicht passive Erst-Ehefrau. Alles gesehen, alles erlebt, weiß sie, was das Leben bereithalten kann und muss nicht zu allem ihren Senf dazugeben. So sitzt diese Hildegard am Grab. Wie ein Baum, wie ihr Mann – mehr muss man nicht wissen, um zu ahnen, wie nah sich die beiden mal waren.
Während das zentrale Geschehen von „Das Begräbnis“ vor und nach der Beerdigung an zwei Tagen parallel an 15 Sets gedreht wurde, entstanden einige Szenen zuvor an anderen Orten. Sie waren geschrieben – und sie skizzieren, woher die Figuren kommen, was sie ausmacht und (an)treibt. Neben diesen „fertigen“ Sets standen (nachdem der geplante Dreh im Frühjahr coronabedingt verschoben werden musste) zwei Wochen im September 2020 im Zeichen der logistischen Vorbereitungen. 56 Kameras mussten auf dem (Friedhofs-)Gelände in Lassahn und im Gasthof positioniert werden. Komparsen bewegten sich auf dem Terrain, um sichtbar zu machen, was kamera- und tontechnisch machbar ist und was nicht.
„Es gibt auf dem Außengelände hinter diesem Gasthof in Lassahn eine Art überdimensionale Holztreppe, auf der man sitzen und wunderbar über den Schaalsee schauen kann. Dort fanden die Kamerabesprechungen statt. 50 Leute wie auf einer Tribüne aufgereiht und die Chefkameraleute standen davor. Die fragten dann, wer welche Probleme hat und auf der Tribüne gingen reihenweise die Finger hoch. Das waren strategische Mannschaftsbesprechungen und die gingen über Stunden.“ (Regisseur Jan Georg Schütte)
Das Team musste wissen, wie viele sich zum gleichen Zeitpunkt wohin bewegen können, ohne dass die Kamera(s) sie aus dem Blick verliert. Aus diesen Durchläufen entstanden technische Regieanweisungen für den eigentlichen Drehablauf. „Das Begräbnis“ war so nicht nur inhaltlich (durch den historischen Horizont der zentralen Geschichte) umfangreicher angelegt als Schüttes bisherige Impro-Arbeiten, der Dreh war auch produktionstechnisch nochmal ein Stück komplizierter. Hinter 50 Kameras stand ein Mensch. Zu den wenigen „unbemannten“ Linsen gehörten die hinterm Toilettenspiegel. Regisseur Schütte verwendet dieses Motiv seit „Altersglühen“ immer wieder. Heißt: Er bietet es als Möglichkeit an. Ein Ort, an dem sich jeder aus dem Ensemble in die Seele schauen kann. Auch der Blick in den Spiegel ist kein Muss, sondern eine Option. In „Das Begräbnis“ machen viele davon Gebrauch. Nur Devid Striesow alias Thorsten sieht sich gezwungen, auf dem Klo in eine andere Kamera zu schauen.
Nach Abschluss der Dreharbeiten beginnt die dramaturgische Arbeit nochmal von vorn. Schütte, Co-Autor Sebastian Schultz und das Schnitt-Team (Tina Freitag, Benjamin Ikes, Ulf Albert) drehen alles hin und her, vergleichen das Material mit den ursprünglichen Erzählansätzen und entscheiden, welche Figuren am besten tragen. Am Ende, so Schütte, hat sich diesmal das ursprüngliche Konzept, dieselbe Geschichte aus sechs unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, durchgesetzt. Die „große Challenge“ verlor Schütte dabei nicht aus den Augen. Das, was er bisher gern in einer Generation schmoren ließ, geht jetzt ein Stück weit in großer Geschichte auf. Die oftmals tragischen Zerwürfnisse, die nach der Wende ans Licht kamen, gebrochene Biografien und Entfremdungen bilden das Zentrum, um das hier alle kreisen. Nicht bleischwer und voller Trauer, eher stolpernd, tanzend, schauspielerisch virtuos.
„In die Rolle ist auch eingeflossen, dass die Wende für viele Menschen eine sehr bittere Lektion in Kapitalismus war. Viele wurden gekündigt, waren plötzlich schnell verschuldet und ihnen wurden die Eigenheime für ein Spottgeld abgekauft – so etwas ist auch in meiner Verwandtschaft passiert. Da verloren Menschen nicht nur ihren Job auch ihre Biografie, für die sie sich plötzlich rechtfertigen mussten.“ (Martin Brambach)
Das Ergebnis zeigt wieder mal, was Schauspiel auch heißt. Es nimmt den Zuschauer mit in Situationen, die er kennt, vor denen er sich fürchtet, die er so ähnlich selbst erlebt und/oder in Gedanken tausendmal durchgespielt hat. Und dann ist doch wieder alles anders. Dann geht man raus an den Stehtisch, um dem anderen im Vertrauen was zu gestehen oder ihm die Leviten zu lesen und ausgerechnet in diesem Moment steht da schon einer. Konnte keiner ahnen. Dann muss man sich dazustellen. Wie im wahren Leben. Da kommt manchmal auch mitten in die Szene einer rein, der da nicht hingehört. In „Das Begräbnis“ führen die Offenheit des Spiels und das Ungeplante der dramaturgischen Plot Points mal zu mehr Realitätsnähe, mal gehen sie auch bewusst in die Übertreibung. Beides ist spannender als viele Geschichten, die das Fernsehen sonst so erzählt. Weil alles immer kippen kann, weil alles im Bild wichtig werden kann. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht in der nächsten Episode. Das macht das Zusehen zum Vergnügen. Wer die Serie am Stück durchschaut, dem wird das ständige Hin und Her zwischen Gastraum und Küche, zwischen Stehtisch drin und Stehtisch draußen vielleicht ein wenig zu wild. Aber auch das hat im Abgleich mit der Wirklichkeit Bestand. Es entspricht dem natürlichen Fluchtreflex auf Familienfeiern.