Das Alter der Erde

Kramer, Vörtler, Behrendt, Zertz, Irslinger, Grünler. Leben und Lieben am Fjord

Foto: Degeto / Olaf R. Benold
Foto Tilmann P. Gangloff

Dieser sehenswerte ARD-Fernsehfilm mit dem poetischen Titel „Das Alter der Erde” handelt von einem alltäglichen, für die betroffenen Frauen aber existenziellen Drama: Birthe, Mitte 40, fürchtet nach dem Auszug der Tochter, der Rest ihres Lebens werde sich wie ein endloser Sonntagnachmittag anfühlen; Sozialwissenschaftler sprechen vom „Empty Nest“-Syndrom. Die Handlung müsste nicht in Norwegen spielen, aber die majestätische Bergkulisse ist mehr als bloß ein pittoresker Schauplatz. Getragen wird der gut fotografierte Film von den Schauspielern, allen voran von Ann-Kathrin Kramer & Felix Vörtler.

Als der ARD-Freitagsfilm noch eine andere Ausrichtung hatte, steuerte die NDR-Tochter Studio Hamburg zweimal pro Jahr die ab 2010 produzierte Reihe „Liebe am Fjord“ bei. Anfangs waren die Geschichten eine Art Antwort auf die ZDF-Marke „Inga Lindström“. Zuletzt sind sie – unter Verzicht auf den früheren Reihentitel – immer anspruchsvoller geworden. Das gilt auch für diesen Film mit dem poetischen Titel „Das Alter der Erde“, weshalb die ARD-Tochter Degeto das Drama offenbar lieber nicht auf dem tendenziell wieder stärker der Unterhaltung zugeneigten Freitagstermin zeigen wollte.

Autorin Silke Zertz erzählt vom typischen Schicksal einer Frau, die ihr Dasein in den letzten zwanzig Jahren der Familie gewidmet hat und nun ohne Perspektive da steht, als die Tochter auszieht. Soziologen haben für das verbreitete Phänomen die treffende Bezeichnung „Empty Nest“-Syndrom gefunden: Die Mutter fühlt sich genauso leer wie ihr Nest. Streng genommen ist Hauptfigur Birthe mit Mitte vierzig fast noch zu jung für das Syndrom, weil die beginnende Menopause für den Mutter-Blues der betroffenen Frauen ebenfalls eine große Rolle spielt, aber in diesem Fall muss das so sein: Weil sie darüber nachdenkt, das Nest einfach mit einem neuen Kind zu füllen. Völlig zu Recht weist ihr Mann Nils (Felix Vörtler) darauf hin, dass sie nun zwar keine Familie mehr, aber immer noch ein Paar seien. Aus seiner Sicht ist die Familienplanung abgeschlossen; er hat keine Lust, mit 65 noch Vater eines Teenagers zu sein. Birthe indes fürchtet, der Rest ihres Lebens könne ein endloser Sonntagnachmittag werden.

Das Alter der ErdeFoto: Degeto / Olaf R. Benold
Jetzt haben Birte (Ann-Kathrin Kramer) und Nils (Felix Vörtler) nur noch sich. „Das Alter der Erde“ = Liebe am Fjord?

Ann-Kathrin Kramer ist eine gute Besetzung für diese Rolle. Dass sie selbst bereits fünfzig ist, fällt überhaupt nicht ins Gewicht. Sie verzichtet hier völlig auf ihren sonst gern ausgelebten rheinisch-bergischen Frohsinn und verkörpert die düsteren Gedanken dieser Frau mit großer Glaubwürdigkeit. Für Felix Vörtler gilt das nicht minder. An Nils’ Liebe zu Birthe besteht kein Zweifel, aber er ist anfangs zunehmend genervt von der Hingabe, mit der seine Frau immer noch die gemeinsame Tochter (Sinje Irslinger) bemuttert, obwohl Tilde längst erwachsen ist. So beginnt der Film auch: Tilde ist von einer Party nicht nach Hause kommen, Birthe kann vor lauter Sorge nicht schlafen, und Nils, den sie wecken muss, als sie sich aussperrt, ist genervt; akut, weil Birthe ihn aus dem Bett geholt hat, und grundsätzlich, weil sie Tilde nicht loslassen kann. Also schubst er die Tochter, die längst mit der Schule fertig ist, kurzerhand aus dem Nest: Job suchen, studieren, was auch immer; Hauptsache, auf eigenen Beinen stehen – und nun stürzt nicht etwa Tilde, sondern Birthe in ein bodenloses Loch. Als sie im Wartezimmer ihrer Gynäkologin zwischen lauter Schwangeren sitzt und feststellt, dass eine der Frauen sogar älter ist als sie, kommt ihr die Idee mit dem zweiten Kind.

Zertz, für ihr Drehbuch zu „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ 2009 mit dem Deutschen und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet, erzählt die Geschichte konsequent als Drama. Von außen betrachtet passiert im Grunde nicht viel; innerlich spielt sich dafür umso mehr ab. Natürlich müsste sich die Handlung nicht unbedingt in der mittelnorwegischen Provinz Møre og Romsdal zutragen, aber die majestätischen Bergzüge sind mehr als bloß ein pittoresker Hintergrund, denn es kommt eine weitere Figur ins Spiel: Henrik Jacobsen (Klaus J. Behrendt) ist Geologe, hat nicht mehr lange zu leben und möchte ein letztes Mal jenen Gipfel erklimmen, auf dem er einst Erkenntnisse gewonnen hat, die die Basis seiner wissenschaftlichen Laufbahn bildeten. Seiner Mitwirkung verdankt der Film auch den Titel, denn als Geologe denkt Henrik in ganz anderen Dimensionen als andere Menschen. Nils und Birthe besitzen ein Geschäft für Outdoor-Ausrüstung, Nils veranstaltet zudem Bergführungen. Als er sich den Fuß verletzt, übernimmt Birthe die Wanderung mit Henrik. In einer Gewitternacht kommen sich die beiden näher. Zur gleichen Zeit will Nils schauen, wie sich seine Tochter in ihrem neuen Job hinter einer Hotelbar macht, plaudert ein wenig mit einer attraktiven Urlauberin (Susann Uplegger) und landet in ihrem Bett. Dass es sich bei der Dame ausgerechnet um die Frau von Henrik handelt, ist für den weiteren Verlauf der Handlung nicht wichtig. Viel entscheidender ist die Tatsache, dass Birthes Begegnung mit Henrik in einer Weise Folgen hat, die aus Nils’ Perspektive das Ende der Ehe bedeuten. Umso wohltuender ist Zertz’ Verzicht auf eine Bewertung: Sie verurteilt Nils nicht für den Wunsch, alles beim Alten zu lassen, gibt Birthe aber auch nicht die Schuld am Zerbrechen der Ehe.

Das Alter der ErdeFoto: Degeto / Olaf R. Benold
Nicht nur der Berggipfel ist erklommen. Ann-Kathrin Kramer & Klaus J. Behrendt. Eine neue Liebe ist wie…

Die Gegen-Meinung (von TV-Spielfilm):
„Vor toll fotografiertem Bergpanorama werden hier mit allerlei Naturmetaphern die großen Fragen des Lebens unangenehm pathetisch durchdekliniert.“

Die Qualität des Drehbuchs zeigt sich auch an den immer wieder eingestreuten kleinen Momenten, die den Film erden und davon abhalten, zur Fallstudie zu werden. Einige sind amüsant, andere verblüffend; es gibt sowohl komische wie auch dramatische Ereignisse. Sehr lebensnah ist zum Beispiel gleich die erste Szene, als Birthe vor der verschlossenen Haustür steht und Nils weder auf ihr Rufen noch auf die Klingel reagiert; wach wird er erst, als sie den Hund bellen lässt. Für die wenigen heiteren Augenblicke sorgt Tilo Prückner als Birthes Vater, der seinen dritten Frühling mit einer Frau erlebt, die allenfalls so alt ist wie seine Tochter. Sehr hübsch ist auch der Vorwand, unter dem Henrik während des Unwetters zu Birthe ins Zelt krabbelt: Da er bereits Krebs habe, sei die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, äußerst gering. Am nächsten Morgen sind von seinem Zelt nur noch verkohlte Reste übrig. Inszeniert wurde „Das Alter der Erde“ vom Fjord-erfahrenen Jörg Grünler, der auch schon Zertz’ Norwegen-Drama „Unter dem Eis“ (2015) realisiert hat. Damals hatten die Luftaufnahmen der prachtvollen Landschaft keinerlei dramaturgische Bewandnis (Kamera hier wie dort: Markus Selikovsky). Diesmal allerdings sind sie integrierter Bestandteil der Handlung, zumal es außerordentlich eindrucksvoll aussieht, wenn sich Birthe und Henrik aus der Vogelperspektive in der gigantischen Landschaft verlieren. Mit ganz ähnlichen Bildern dieser unwirtlichen Bergwelt, untermalt von einer angemessen groß klingenden Musik (Mick Baumeister), beginnt der Film auch; das ist genau die richtige Einführung. Fraglich ist allerdings, ob die Geschichte an einem Samstag funktionieren wird; eigentlich ist „Das Alter der Erde“ ein typischer „Mittwochsfilm“. (Text-Stand: 23.12.2016)

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Ann-Kathrin Kramer, Felix Vörtler, Klaus J. Behrendt, Sinje Irslinger, Tilo Prückner, Konstanze Dutzi, Adelheid Kleineidam, Susann Uplegger

Kamera: Markus Selikovsky

Szenenbild: Andrea Steinlandt

Kostüm: Maria Dimler

Schnitt: Gerald Slovak

Musik: Mick Baumeister

Soundtrack: Mick Jagger & Dave Stewart („Blind Leading The Blind“)

Produktionsfirma: Letterbox Filmproduktion

Drehbuch: Silke Zertz, – Idee: Martin Rauhaus

Regie: Jörg Grünler

Quote: 3,33 Mio. Zuschauer (10,2% MA)

EA: 21.01.2017 20:15 Uhr | ARD

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