Als die Eltern der heutigen „Millennials“ einst in deren Alter waren, haben sie sich natürlich Gedanken über ihre berufliche Zukunft gemacht. Mindestens genauso wichtig war aber die Frage, ob man eine Familie gründen soll; und wenn ja, mit wem. Davon hat 1995 die ZDF-Serie „Um die 30“ erzählt; es ging um sechs Freundinnen und Freunde, die ihre Jugend hinter sich hatten. „Damaged Goods“ ist „Um die 30“ für ihre Kinder. Die Hauptfiguren der achtteiligen Amazon-Serie sind Ende 20 und daher noch zu jung für eine Midlife-Krise; es handelt sich also eher um eine Drittelkrise; in der steckt vor allem Nola (Sophie Passmann).
Foto: Prime Video / Marc Reimann
Die angehende Psychologin steht vor den Scherben ihrer Karriereplanung: Ihre Masterarbeit ist aufgrund formaler Fehler abgelehnt und sie selbst umgehend exmatrikuliert worden. Weil sie keinen Plan B hat, arbeitet sie nun in einem Baumarkt. Freundin Tia (Zeynep Bozbay) hat sie auf eine Idee gebracht, wie sie ihre Erfahrungen aus dem Studium doch noch beruflich nutzen kann: Nun betreibt sie als „Küchenpsychologin“ einen Podcast, den sie „Damaged Goods“ (beschädigte Waren) nennt. Darin spricht sie über Freundschaft, Neid, Lügen, Abschiednehmen und all’ die anderen Themen, die ihre Clique umtreiben; allerdings ohne deren Wissen. Deshalb beginnt die erste Folge mit dem eingefrorenen Bild wütender Gesichter und Beschimpfungen: Offenbar haben die Freundinnen und Freunde rausgefunden, dass Nola die ganze Welt über ihre kleinen und großen Dramen informiert hat; der Rest ist Rückblende und beschreibt, wie alles begann.
Die Podcast-Idee ist schon allein deshalb clever, weil Nola auf diese Weise ganz offiziell als Erzählerin durch die Handlung führen kann; in vielen Filmen und Serien klingt der Off-Kommentar oft wie ein geschwätziges Hilfsmittel. Der Auftakt wirkt dennoch etwas ruckelig, zumal der aufgekratzte Stil gewöhnungsbedürftig ist und die Figuren anfangs allzu klischeehaft anmuten: Der attraktive Mads (Tim Oliver Schultz) lebt nach abgebrochenem Jurastudium von Gelegenheitsjobs und ist jeden Abend mit einer anderen Frau verabredet. Tia ist Künstlerin und selbstredend unkonventionell: Ihr Atelier befindet sich in einem Gewächshaus, ihre Oma (Michaela May) ist Hippie. Nolas Mitbewohnerin Hennie (Leonie Brill) träumt von einem klassischen Spießerleben mit Familie und eigenem Häuschen. Fünfter im Bunde ist Hugo (Antonije Stankovic), ein schwuler Flugbegleiter, der sich ausgerechnet in seinen schlimmsten Feind aus Schulzeiten verliebt. Das Quintett hat sich vor vielen Jahren bei einer Gruppentherapie kennengelernt und geht seither gemeinsam durch Dick und Dünn. Ihren Reiz bezieht die Serie aus dem nächsten Schritt: Die fünf Ex-Teenager sind jetzt in einem Alter, in dem man gemeinhin endgültig erwachsen wird, und das macht ihnen ebenso Angst wie die Vorahnung, dass jede Clique ein Verfallsdatum hat.
„Damaged Goods“ hat viele Qualitäten: Das Ensemble ist mit seiner Mischung aus etablierten und noch zu entdeckenden Mitwirkenden ausgezeichnet zusammengestellt, die Dialoge sind temporeich und witzig, die Situationskomik ist oftmals verblüffend. Bildgestaltung (Nathalie Wiedemann), Schnitt und geteilter Bildschirm sorgen für weitere Dynamik, die Musik (David Reichelt) ist ebenfalls recht flott. Regie führte Anna-Katharina Maier, die für Amazon bereits „Der Beischläfer“ (2020) gedreht hat, eine nicht minder witzige Serie voller liebevoll schräger Figuren. Die größte Leistung ist dennoch die Emanzipation der Figuren von ihren Klischees. Einzig Hugo kommt nicht recht aus seiner Haut, zumal seine ständigen Anglizismen aufgesetzt klingen, aber die anderen dürfen gleich mehrere Metamorphosen durchmachen: Mads findet durch Zufall raus, dass er Vater wird; die frisch vom Freund verlassene Nola erlebt ein überraschendes „Awakening“ und verliebt sich in eine Psychotherapeutin.
Die im siebenköpfigen Writers’ Room entstandenen Drehbücher (Chefautor: Jonas Bock) konfrontieren das Quintett zudem immer wieder mit Einfällen, die den dreißig bis vierzig Minuten langen Episoden viel Kurzweil bescheren: Tia drückt Mads ein Säckchen Zement Marke „Marisol“ in die Hand, damit er einen Tag lang die Vaterschaft üben kann, und dokumentiert das „Projekt“ mit dem Smartphone. Natürlich spielt auch Sex eine wichtige Rolle. Die entsprechenden Dialoge sind recht explizit, die Bilder dagegen jugendfrei. Trotzdem ist es ziemlich erotisch, wenn Mads mit Hilfe einer halbierten Pampelmuse veranschaulicht, wie Nola ihre neue Freundin oral befriedigen soll. Die namhafteBesetzung der teilweise winzigen Gastrollen beschert weitere Überraschungsmomente: Den Doktorvater spielt Christian Tramitz, die Analytikerin Jasmin Gerat, die Kindsmutter Klara Deutschmann. Helmfried von Lüttichau klärt als Arzt den von einem unangenehmen Ausschlag befallenen Mads darüber auf, dass Chlamydien die Ursache sind. Als er die Liebschaften der letzten sechs Monate über die Geschlechtskrankheit informiert, erfährt er erst von seiner Vaterschaft.
Aber selbst wenn es sonst nichts Gutes über „Damaged Goods“ zu sagen gäbe: Allein die Entdeckung Sophie Passmanns als Schauspielerin ist jede Minute wert. „Das schreit nach Grimme-Preis!“, kommentiert Tia ihren „Marisol“-Film. Passmann hat schon einen: 2021 ist die Radiomoderatorin und Autorin für Buch und Moderation der „Joko & Klaas Live“-Ausgabe „Männerwelten“ ausgezeichnet worden. Die turbulente letzte Folge sorgt für den in der Auftaktfolge angedeuteten Knalleffekt, schafft aber auch die Basis für eine Fortsetzung, und das ist eine ausgesprochen gute Nachricht. (Text-Stand: 11.7.2022)